Eine unbegabte Frau
klopfenden Herzen. Das waren ja schreckliche Geräusche! Solch ein wütendes Pfeifen, solch fürchterliches Rumpeln und Rasseln! Viele schwarze Augenpaare blickten hilfesuchend auf Gladys und wieder zurück auf die Kurve, hinter der das fauchende Ungetüm erscheinen mußte. Wußte Ai-weh-deh denn auch wirklich Bescheid in dieser »Zug«-Angelegenheit? Denn schon aus der Entfernung klang es wie das Brüllen des obersten Drachengroßvaters. Wenn er sie nun alle verschlingen würde? Und der Lärm wurde immer schlimmer, obgleich noch gar nichts zu sehen war. Die Bremsen quietschten, die Puffer stießen aufeinander, und nun kam um die Ecke, qualmend und prustend, häßlich, schwarz, eisern und furchterregend das Untier! Ein einziger lauter Schreckensschrei entrang sich der Kinderschar, die Reihen lösten sich auf, die Panik war ansteckend. Bündel, Schüsseln und Eßstäbchen flogen zu Boden, ihre Besitzer flohen in alle Windrichtungen. Der Zug hatte noch nicht angehalten, und schon sah man kein einziges Kind mehr auf dem Bahnsteig. Die hölzernen Personenwagen kamen rasselnd zum Stehern Die Maschine begnügte sich nun mit einem schweren, dampfenden Ächzen, und Gladys versuchte, ihre Schützlinge wieder zu sammeln.
Die älteren Jungen und Mädchen schämten sich bereits ein wenig ihrer sinnlosen Angst, halfen die kleineren einfangen und beteuerten schmollend, sie seien nur fortgelaufen, um die anderen am Fortlaufen zu verhindern. Ein Häufchen von Achtjährigen wurde kurz vor dem Flüchtlingslager eingeholt, sie waren den langen Weg dorthin zurückgerannt. Unter Kisten und Ballen zog man Kinder hervor, in unvorstellbaren Schlupfwinkeln und Verstecken fand man sie wieder. Grüppchen nach Grüppchen konnte Gladys wieder auf den Bahnsteig zurückführen, und es war nur ein Glück, daß es dem Zug nicht im geringsten wichtig zu sein schien, heute noch irgendwo anders hinzukommen. Die Wagen waren nichts weiter als große Holzkästen mit einem Dach darauf. Sitze gab es nicht, viele andere Flüchtlinge mit ihren Bündeln und Schüsseln kauerten und standen schon in den Wagen.
Es gelang Gladys, alle ihre Kinder in einem langen Waggon unterzubringen, und als der Zug sich nach endlosem Stehen schwerfällig holpernd in Bewegung setzte, fingen sie schon an, das Abenteuer zu genießen. Es gab dann nur noch einmal einen Augenblick lang einen großen Schreien. Nach einiger Zeit holte nämlich ein älterer Herr, der nicht weit von Gladys entfernt hockte und ganz von ihren Kindern umgeben war, einen Kerzenstummel aus seiner Tasche und zündete ihn mit großer Sorgfalt an. Natürlich gaben ein paar kleine Jungen nicht eher Ruhe, bis das Licht schnell wieder ausgeblasen war. In diesem Moment fuhr der Zug in einen Tunnel ein. Unheimliche Schwärze umfing die Kinder plötzlich, und ohrenbetäubendes Angstgeschrei ließ den Waggon erzittern. Dem alten Mann gelang es zum Glück bald, seine Kerze wieder zu entzünden, und nachdem nun der Zweck seines Handelns so klar zutage getreten war, wagte kein kleiner Steppke mehr auch nur den leisesten Atemzug in der Richtung des rettenden Stümpfleins.
Vier Tage lang blieben sie in dem Zug, der langsam und in kurzen Etappen vorwärtsholperte. Manchmal hielt er ein paar Stunden, dann stiegen die Passagiere aus und lockerten die steifen Glieder. Von Zeit zu Zeit waren neben den Schienen Kisten und Bretter zu einem Imbißstand zusammengenagelt, an dem Hirsebrei und Tee für Flüchtlinge bereitgehalten wurde. Gladys brachte den größten Teil der Zeit im Halbschlaf zu; sie fühlte sich zwar nicht wirklich krank, aber es war ihr, als hätte eine ungeheure Müdigkeit sich bis ins Innerste ihrer Knochen festgesetzt. Fast drei Wochen waren sie nun unterwegs, vom Regen durchnäßt, vom Wind getrocknet. Sie hatte selten ruhig geschlafen und selten genug gegessen. Konnte sie da erwarten — fragte sie sich —, daß sie sich so wohl fühlte wie früher?
In dem kleinen Dorf Tien Slia hielt der Zug; hier war für sie die Reise zu Ende, die wellige Ebene hörte auf, und Berge stiegen steil vor ihnen zum Himmel. Schon wand sich der dünne Strom der Flüchtlinge die schmalen felsigen Pässe hinauf — alte Männer, junge Frauen, Väter, Mütter, Familien, mit ihren Bündeln beladen; alle flohen westwärts, fort von der japanischen Kriegsfurie. Sie erbettelten sich im Dorf ihre Nahrung, aber Gladys konnte den Blick kaum von den Bergen wenden: sie erschreckten sie. Sie mochte nicht weitergehen, sie wollte bleiben, wo
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