Eine unbegabte Frau
Feuer aus trockenem Schilf brannte gut, und das Resultat wurde dann sorgfältig über einen Wald schwankender Schüsselchen verteilt. Für Gladys, Sualan und die größeren Jungen gab es nicht viel, aber die Kleinen waren wenigstens satt.
Die Sonne stand hoch, und noch immer zeigte sich kein einziges Boot auf der weiten Wasserfläche. Die Jungen zogen noch einmal los, um etwas Eßbares zu finden, diesmal in den wenigen Häusern, die am Ufer verstreut lagen. Gladys saß still da und sah nach den Kindern, mit halbem Ohr schon auf das feme Gewehrfeuer horchend, das den Feind ankündigen würde. Die Buben hatten wieder ein paar eßbare Bissen zusammengetragen, Gladys hob sie für den nächsten Tag auf. Wieder rollten sich die Kinder am Flußufer zum Schlafen zusammen, ihr Gewimmer schnitt Gladys ins Herz:
»Ai-weh-deh, wir haben solchen Hunger!«
»Ai-weh-deh, wann gehen wir denn über den Fluß?«
»Wann gehen wir über den Fluß, Ai-weh-deh?«
Sie tröstete sie, so gut sie konnte, und eines nach dem anderen schlief endlich ein. Kalt und weiß stieg der Mond über dem jenseitigen Ufer auf und betrachtete sie mit starrem Blick. Ein leichter, kalter Wind lispelte im Schilf. Fetzen grauweißen Nebels hingen über dem Wasser. Man hörte den Strom dahinfließen, leise, geheimnisvoll. Gladys lag auf dem Rücken und sah zu den Sternen hinauf. Irgendwie schien ihr nachts alles etwas leichter. Im Sonnenschein lastete die harte Wirklichkeit — diese ungeheure Wasserbarriere, der Hunger, das Wimmern der Kinder — als eine fast nicht mehr zu tragende Bürde auf ihrer Seele. Nachts aber waren die Grenzen zwischen Gegenwart und Zukunft verwischt, sie zerflossen in dem Frieden, der dem Schlaf vorausgeht. Einige Stunden des Vergessens waren ihr geschenkt, bevor der heiße Sonnenball sich über den Horizont erhob und der Kinderschwarm zum Wasser hinabrannte, um mit viel Geschrei und Wasserspritzen den neuen Tag zu begrüßen. Und dann, schließlich: konnte morgen nicht schon alles anders sein? Morgen könnte doch vielleicht ein Boot kommen.
Sie aßen die letzten Krumen an diesem dritten Tag am Ufer des Gelben Flusses. Die Sonne stieg, und die Kinder hatten genug vom Herumtollen. Gladys erzählte ihnen Geschichten, und sie sangen Lieder; ihre Augen taten weh vom Starren über das gleißende Wasser auf der Suche nach einem Boot. Als die Sonne wieder unterging, krochen alle dicht zu ihr heran, so daß sie sie mit den Händen berühren konnte. Am Morgen des vierten Tages hockten auch die Kleinen trübsinnig umher. Aber Sualans Glaube war nicht zu erschüttern:
»Ai-weh-deh«, sagte sie, »erinnerst du dich nicht, was du uns von Moses erzählt hast, wie er die Kinder Israels an die Wasser des Roten Meeres führte? Und wie Gott dem Wasser befahl, sich zu öffnen, und das Volk Israel sicher hinüberkam?«
»Doch, ich erinnere mich«, sagte Gladys weich.
»Warum teilt dann Gott die Wasser des Hoang-ho nicht für uns, damit wir hinüber können?«
Gladys blickte müde in das hübsche, kindliche Gesicht, in die großen, verständnisvollen Augen. »Ich bin nicht Moses, Sualan«, sagte sie.
»Aber Gott ist immer Gott, Ai-weh-deh. Du hast uns das hundertmal gesagt. Wenn Er Gott ist, kann Er den Hoang-ho für uns auftun.«
Einen Augenblick lang wußte sie nicht, was sie antworten sollte. Wie konnte sie einem hungrigen Kind am Ufer eines gewaltigen, reißenden Flusses sagen, daß Wunder nicht immer nach Wunsch eintreten? Daß sie vielleicht eines Wunders nicht wert waren? Wie es ausdrücken, daß niemand, und sei er einem sterblichen Feind gegenüber noch so tapfer, dieses gewaltige Wasser zu öffnen vermöge? Daß uns keine andere Kraft bleibe als die Kraft des Glaubens?
Sie sagte: »Du und ich, wir wollen beten, Sualan. Und vielleicht wird unser Gebet erhört.«
Der Offizier blickte etwas ironisch auf seine Patrouille zurück, die er hier auf dem »falschen« Ufer des Flusses anzuführen hatte und die ihm als unordentlicher Haufen in gemütlichem Tempo folgte. Es waren eher Jungen als Männer, Burschen, die man in den Dörfern des Hinterlandes zum Militär gepreßt hatte: man hatte ihnen ein Gewehr in die Hand gedrückt, eine schlechtsitzende Uniform übergezogen. Die Fähigkeit, vom Lande, von der Bevölkerung sich zu nähren, hatten sie sich dann sehr schnell als wichtigsten Teil ihrer militärischen und persönlichen Ausbildung angeeignet. Es waren ihrer acht: unrasiert, mit kurzgeschorenen Köpfen.
Kämpfen würden sie schon!
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