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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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Glocken läuteten den ganzen Tag über, und viele Gebete stiegen zu Buddha auf.
    In einem der zahlreichen Tempel war die Flüchtlingsstation der Nationalisten eingerichtet. Gladys und die Kinder durften sich sattessen, und sie konnte endlich wieder einmal ruhig schlafen. Merkwürdigerweise fühlte sie sich in dieser weichen Landschaft mit ihrer lieblichen, milden Luft nicht wohl; dieses Klima war ihr fremd. Sie war ein Bergmensch geworden, und es verlangte sie nach der scharfen, klaren Luft Schansis, seinem Schnee und seinen Winden. Gutmütig nahm sie die Arznei, die ihr die Kinder brachten, und Liang und Ninepence ließen nicht locker, bis sie sie ausgetrunken hatte. Buddhistische Priester, denen sie erzählt hatten, daß Ai-weh-deh krank sei und ein Kräftigungsmittel brauche, hatten eine Kräutermischung zusammengestellt; sie sollten sie in Wasser kochen und, abgekühlt, Ai-weh-deh zu trinken geben. Der Sud schmeckte bitter, tat ihr aber gut.
    Wie viele Tage sie eigentlich in Huasan verbrachten, hätte sie nicht angeben können. Sie wußte nur, daß sie im März von Yang Cheng abmarschiert waren, und jetzt war es Ende April. Abgesehen von dem täglichen Quantum aufgeschlagener Knie, Schnittwunden und Kopfbeulen, die die normalen Begleiter jedes Kinderlebens sind, waren sie alle gesund. Die Züge nach Sian verkehrten in regelmäßigen Abständen. Sie solle sich jetzt keine Sorgen machen, sagte die Leiterin des Flüchtlingslagers. Ein paar Ruhetage täten Gladys gut, und dann könnten sie mit dem nächsten passenden Zuge weiterfahren. Die freundliche junge Frau war eine der jungen Chinesinnen, die im Geiste der Gruppe »Neues Leben« arbeiteten, einer nationalen Frauenbewegung, die unter der Führung der Frau Tschiang Kai-schek ganz China eroberte.

    Eines Morgens half sie Gladys, die Kinder in den Zug hineinbugsieren; auch für Lebensmittel war gesorgt, da die Reise mehrere Tage dauern würde. Chinesische Züge verkehrten damals mit einer für europäische Begriffe völlig unfaßbaren Willkürlichkeit. Sie fuhren oder hielten, ganz wie es ihnen die Laune eingab. Die Kinder spielten, schrien und zankten sich wie immer, die Landschaft zog lieblich in der Aprilsonne an ihnen vorbei. Manchmal hielten sie stundenlang irgendwo, dann schuckelte man wieder Tag und Nacht ohne Unterbrechung weiter. Aber einmal um die Mittagszeit fiel Gladys eine ungewöhnliche Lebhaftigkeit unter den anderen Flüchtlingen auf. Sie rappelte sich aus ihrem Hindämmern auf und erblickte jetzt einen Bahnhof inmitten vieler kleiner Vorstadthäuser, und dahinter die Wälle und Pagoden einer Stadt. Der Zug hielt, die Kinder sprangen schon alle auf der Plattform herum, und sie mußte nun wohl folgen. Sian! Vor dem Bahnhof stellte sie ihre Schar zur gewohnten Riesenschlange auf: »Wenn wir durch die Tore von Sian marschieren, wollen wir einen Choral singen!« kündigte sie an. Ein alter Chinese, der ihre Worte gehört hatte, hob den Kopf und sah sie aus winzigen, tränenden Augen an. »Nach Sian kommen Sie niemals hinein. Die Tore sind geschlossen. Es ist streng verboten, noch mehr Flüchtlinge in die Stadt einzulassen!«
    Sie glaubte ihm nicht — sie konnte ihm nicht glauben. Die stummen Gesichter der Kinder waren verständnislos ihr zugewandt. All die langen Wochen hatte sie sie mit diesem Ziel, mit dem Bild der rettenden Stadt Sian, aufrechterhalten.
    »Wohin sollen wir denn gehen?« rief sie verzweifelt. »Wo sollen wir hin?«
    Der alte Mann zeigte über seine Schulter. »Da unter dem Stadtwall ist ein Flüchtlingslager. Dort bekommt ihr etwas zu essen.«
    Das war der Erfolg dieser Reise. Das war der ganze niederschmetternde Erfolg dieser Reise! Wie kalter Hohn senkte sich die Nachricht auf Gladys’ Gemüt. Sie führte die Kinder in das Lager und überließ sie den Helferinnen vom Bund »Neues Leben«. Sie selbst ging allein, zwischen Hoffen und Verzweifeln hinundhergerissen, die Straße zur Stadt hinauf. Die Mauern waren hoch und mit Wachtürmen bewehrt. Sian war weit größer als Yang Cheng. Über den Wällen konnte sie die hohen, mit grünen Ziegeln freundlich gedeckten Dächer der Pagoden sehen. Aber die massiven Holztore waren geschlossen und verriegelt Ein Posten oben auf der Mauer rief: »Frau! Gehen Sie fort da! Die Stadt ist mit Flüchtlingen überfüllt. Es kommt niemand in die Stadt... gehen Sie fort, Frau!« Sie lehnte ihr Gesicht gegen das harte rauhe Holz des Tores und weinte. Diese lange, lange Reise! Und nun dies! Dies!

17.

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