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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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blickte auf zu dem hellen Mond, der hoch über den klaren Nachthimmel dahinzog. Er zeichnete die Dächer der Pagoden über der Stadtmauer silberschimmernd nach; deutlich traten die messerscharfen Grate der fernen leuchtenden Berggipfel in seinem Licht hervor. Die langen lockeren Nebelgebilde, die wie feine Schleier um die niedrigeren Hügel schwebten, empfingen von ihm einen sanft strahlenden Schein. Gladys wußte, daß Mrs. Lawson im Sterben lag. Chang hatte es schon seit einigen Tagen erkannt. Sie hatten den einfachen schwarzen Sarg bestellt, der nun unten im Hof stand. Gladys blickte auf ihn hinab: früher hätte ihr diese chinesische Sitte, den Sarg kommen zu lassen, ehe das Leben erloschen war, Schrecken eingejagt; aber jetzt nahm sie es als etwas Selbstverständliches hin. »Wie sehr muß dies eine Jahr mich verändert haben!« überlegte sie.
    Hier neben ihr im Zimmer lag nun Hanna Lawson im Todeskampf. Gladys hatte den Ellbogen auf die Balustrade gestützt und legte den Kopf in die Handfläche. War es nicht trotzdem ein Glück, geboren zu sein? Unter den unübersehbaren Billionen lebender Zellen auf dieser Erde, die sich zu tierischen und pflanzlichen Formen zusammenschlossen, zwischen abgestorbenen und gerade sich bildenden Zellenheeren als Mensch geboren zu sein, als Mensch mit einer Seele — war das nicht eine fast überwältigende Gottesgabe? Hanna hatte diese Gabe genutzt. Sie hatte die Köstlichkeit, das Glück des Lebendigseins in allen Adern gespürt, hatte jedes Jahr ausgefüllt, das ihr gegeben war. Nun wurde das Geschenk zurückgenommen; es machte wehmütig, sie in das Reich heimkehren zu sehen, wohin unsere Vorstellungskraft nicht reicht.
    Gedanken über Leben und Tod zogen durch Gladys hin, während sie draußen im Mondlicht stand; und auch ihre eigene Lage kam ihr zum Bewußtsein. Wenn Frau Lawson starb, blieb Gladys allein in dieser wilden Bergprovinz zurück. Die Jahresmiete war vorausbezahlt, aber Frau Lawsons bescheidenes Einkommen fiel nun fort. Gladys’ ganze Barschaft bestand aus wenigen Pennies! Und doch fühlte sie in diesem Augenblick eine große Ruhe, eine neue Würde. Sie wünschte nur, daß Hanna nicht jetzt in den dunklen Stunden heimginge —: im Licht des Tages müßte sie sterben — das entsprach ihrem klaren, hellen Wesen.
    Nur noch ein schmaler Streifen Mondlicht fiel in das Krankenzimmer. Nun endlich klang die Stimme der Fiebernden ruhiger; Gladys hörte sie innig und ergeben sagen:
    »Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.«
    Der Morgen kam, die Sonne hob sich triumphierend über die Bergspitzen. Und um die Mittagsstunde starb Johanna Lawson.

6. Kapitel

    Gladys fühlte sich in der Hut ihres Gottes wie von einer unsichtbaren festen Hülle umgeben, an der jeder Pfeil, jede Kugel abprallte, die die irdische Welt ihr zugedacht haben mochte. — Ihr Glaube war unerschütterlich. Er war für sie wie die warme Decke in kalter Nacht, Heilung in der Krankheit, die Mahlzeit für den Hunger. Er bedeutete ihr das Dach über dem Kopf, er war wie ein Bett, in dem sie eingehüllt und sicher ruhen konnte. Von den Problemen der Theologen hatte sie keines je gequält. Die Zweifel schwankender Intellektueller fegten in Stratosphärenhöhe über ihrem Kopf dahin. Die Beine um ihren durchaus irdischen Maulesel geklammert, strebte sie ihren Weg voran, fröhlich wie ein Londoner Spatz, stark wie Richard Löwenherz und mit der sicheren Entschlußkraft des Lachses, der stromauf seinen Platz sucht. Das Wort Gottes war für alle Menschen verständlich, und ihre Aufgabe hier im Leben war, sein Wort wie Samen in ihrem Yang Cheng und in den Bergdörfern auszustreuen. Dieses verblichene schwarze Buch, das sie überall mit sich herumtrug, war die Quelle aller Gefühle, aller Gedanken und aller Aufschwünge, deren ihr Wesen fähig war. Vielfältig und seltsam waren die Erlebnisse, in denen sie ihren Glauben in den nächsten Jahren noch beweisen sollte.
    Die Wochen nach Hanna Lawsons Tod brachten für Gladys fast unüberwindliche Schwierigkeiten. Das Erstaunlichste aber an dieser Situation waren die »Nothelfer«, die sie vor der drohenden Katastrophe bewahrten: ein Koch und ein Mandarin.
    Als erstes war die finanzielle Lage mit Chang zu besprechen. Die Miete war auf

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