Eine unbegabte Frau
anderen Provinzen — sicher kann man uns dort eine geeignete Frau nennen. Wäre es Ihnen möglich, an Ihre Freunde zu schreiben und sie zu fragen? Wir wären Ihnen außerordentlich dankbar.«
»Selbstverständlich, gern«, antwortete Gladys automatisch. Im gleichen Moment aber stieg eine heiße Angst in ihr auf: sie kannte ja in ganz China keinen einzigen Menschen außer Frau Smith in Tsechow! Doch diesen Gedanken durfte sie jetzt nicht aufkommen lassen — hoffentlich hatte niemand ihr plötzliches Erschrecken bemerkt !
»Die Bezahlung ist allerdings bescheiden«, erklärte der Mandarin, »die Löhnung besteht in einem Maß Hirse täglich und vier Käsch für Gemüse. Ein Maultier für die Reisen zu den einsamen Dörfern wird vom Yamen gestellt, außerdem zwei Wachsoldaten als Begleitung der Frau. Würden Sie mir bitte eine solche Frau suchen? Wir brauchen sie nötig.«
»Ich werde mein Bestes tun«, entgegnete Gladys und verbeugte sich. Es war besser, die Landessitten zu respektieren, und ihr schien es immer, als verbeugte sich hier jeder vor jedem. Die ganze Szene hatte sich in vollendeter Höflichkeit abgespielt; der Mandarin nahm wieder in seiner Sänfte Platz, und die Deputation bewegte sich farbenprächtig zum Tor hinaus. Gladys blieb etwas atemlos zurück. Ohne es zu wissen, hatte sie soeben die Stellung einer amtlichen Fußinspektorin für die Provinz Yang Cheng in Schansi angenommen und gehörte nunmehr untertänig zum Gesinde Seiner hochmögenden Exzellenz, des Mandarins von Yang Cheng. Allerdings merkte sie erst mehrere Wochen später, daß sie diese unvergleichliche neue Stellung zu bekleiden die Ehre haben würde. Zunächst einmal schrieb sie in redlichem Bemühen, eine Fußinspektorin zu finden, Briefe in alle Richtungen Chinas: an die Missionen in Tientsin, Luan, Hongkong, Schanghai — an alle Plätze, wo sich eine christliche Gemeinde vermuten ließ. Aber die Antworten waren fast gleichlautend: erstens kannte kein Mädchen den Hochgebirgsdialekt von Yang Cheng; zweitens konnten oder wollten sie nicht ihre Tage auf dem Maulesel verbringen; drittens fand sich keine, die wünschte oder in der Lage war, eine Hirsediät — Tagesration ein Marktmaß — durchzuhalten; alle Mädchen, ob sie nun große oder kleine Füße hatten, aus Hongkong oder Tientsin oder anderen Orten im großen China, mochten viel lieber Reis. Ein Leben ohne Reis konnten sie sich nicht vorstellen. Aber in Yang Cheng und in der ganzen Provinz wuchs keiner, und Gladys fand es nicht sehr wahrscheinlich, daß man einem so unbedeutenden Etwas wie einer Fußinspektorin zuliebe Maulesel mit Reis übers Gebirge schicken würde.
Ungefähr zwei Monate später, wieder in Begleitung seines vollzähligen Gefolges, bog der Mandarin zum zweitenmal in den Torweg der »Herberge zu den Acht Glückseligkeiten« ein. Er entstieg seiner Sänfte, und seine Begleitung gruppierte sich in würdig-ernstem Halbkreis hinter ihrem Herrn.
»Sie haben keine Frau gefunden?« fragte er vorwurfsvoll.
Gladys hatte beschlossen, diesmal die Verbeugungen wegzulassen. »Herr Mandarin, ich bemühe mich noch immer«, sagte sie kleinlaut.
Die dunklen geschwungenen Augenbrauen des Mandarin zogen sich leicht zusammen.
»Und warum haben Sie kein Mädchen gefunden?« gab er kalt zurück.
Gladys setzte ihm all die Gründe auseinander, die von den Missionen angegeben worden waren: eine konnte nicht Maultier reiten; die andere wollte kein Maultier reiten; eine andere wollte nicht von Hirse leben; noch eine andere fand Yang Cheng zu weit fort. Der Mandarin schlug kurz und zornig mit dem Fächer in seine Handfläche. »Gut, dann müssen Sie die Fußinspektion übernehmen«, befahl er.
»Ich!« In solchen Augenblicken fehlten Gladys stets alle Worte.
»Sie sind in der ganzen Provinz die einzige Frau mit großen Füßen. Also müssen Sie die Kontrolle durchführen!«
Während Gladys sich bemühte, den Hohen Herrn nicht allzu entgeistert anzusehen, suchte sie fieberhaft nach einer Antwort, nach irgendeinem Strohhalm, an den sie sich klammem konnte. »Aber ich bin Christin — bin keine Chinesin. Ich weiß gar nicht Bescheid mit Füßen...«
»Es ist ganz einfach. Sie werden von Dorf zu Dorf reisen und den Leuten den Regierangsbefehl bekanntgeben. Dann werden Sie die Frauen auf dem Marktplatz oder in einem Haus zusammenrufen und sich ihre Füße zeigen lassen. Wenn Sie kleine Mädchen finden, deren Füße verschnürt sind, werden Sie die Bandagen lösen. Jeder Widerstand
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