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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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Frauen beiseite, kniete nieder und zog sanft die Zehen aufwärts und fort von der Sohle. Das Kind sah ihr mit runden, ängstlichen Augen zu.
    »So, so«, sagte Gladys sanft. »Guck: fünf kleine Ferkelchen, die fahren auf den Markt!« Sie massierte vorsichtig den Fuß. Plötzlich stieß die Kleine einen hellen, kurzen Quiekser aus und wand sich vor Vergnügen: »Oh, es kitzelt!« rief sie, »es kitzelt ja so!«
    Damit war das Eis gebrochen. Die Frauen kamen näher und plauderten unbefangen. Später lernte Gladys diese Gebirgsfrauen als einen unabhängigen, mutigen Menschenschlag kennen. »Ja, es ist ein gutes Gesetz«, sagten sie. Alle wollten nun bei der Fußmassage helfen. Alle wollten ihr von den Schmerzen und der Behinderung erzählen, die ihnen ihre Füße von Kindheit an bereitet hatten. Die Nachbarinnen liefen in die nächsten Häuser und erklärten dort, was zu tun war, so daß die Nachricht sich schon im ganzen Dorf verbreitet hatte, während Gladys noch die ersten Häuser kontrollierte. Bei späteren Besuchen stellten manche Frauen ihr schon gehorsam alle ihre kleinen Mädchen mit ungebundenen Füßen vor. Wieweit die aufmunternd wiederholte Forderung der beiden Soldaten: »Füße aufbinden oder ins Gefängnis!« nachhalf, läßt sich schwer feststellen — jedenfalls aber waren alle äußerst zuvorkommend.
    Gladys fand für die Nacht im Hause des Ältesten Aufnahme. Leichten Herzens setzte sie ihre Reise fort, und wirklich ging auch in den Dörfern, die sie anschließend besuchte, alles erstaunlich glatt vonstatten.
    In den entlegenen Tälern fand sie oft größere, fast ganz von der Außenwelt abgeschnittene Ansiedlungen. Der Boden war hier sorgfältig in Terrassen angelegt, die Bauern hielten Rinder, Schweine und Hühner und kleideten sich in selbstgewebte Baumwolle. Einfache, freundliche Menschen lebten hier, die Kraft und Ruhe ausströmten und eine Fröhlichkeit, die Gladys sonst noch nirgends begegnet war. An ihren Sitten und Gebräuchen, die ihnen von alters her überkommen waren, hielten sie treulich fest.
    Die Besuche der neuen Fußinspektorin waren natürlich aufregende Ereignisse im Leben eines solchen Dorfes; sie bedeuteten Nachricht von »draußen«, und besonders abends, wenn Gladys mit Erzählen anfing, fand sie bewundernde und hingebungsvolle Zuhörer.
    Die Kinder lärmten um ihr altes graues Maultier, wenn sie durch das Tor trabte, die Soldaten riefen und winkten Freunden zu, während sie miteinander zur Herberge oder zum Haus des Ältesten ritten, wo sie Aufenthalt zu nehmen gedachten. Abends strömten die Dörfler herein, um die neuen Lieder zu lernen, die in Rhythmus und Melodie so ganz anders klangen als ihre eigenen, und um Gladys’ Geschichten zu hören. Sie handelten alle von einem Manne namens Jesus Christus, dessen »ehrwürdiger Ahne« der große Gott war, der über den Wolken thront. Dieser Jesus schien in einer genauso einfachen Gemeinschaft gelebt zu haben wie sie selbst; ganz ähnliche Ansichten von Gut und Böse, wie sie bei ihnen im Hochgebirgstal galten, hatte auch er verkündet, es war ihnen alles verständlich und beinahe verwandt. Jesus Christus war eine mitreißende Persönlichkeit, und offenbar ging der Vorrat an Geschichten, die von ihm erzählt wurden, der amtlichen Fußinspektorin niemals aus!
    Diese Jahre waren für Gladys erfüllt von einer tief inneren, ungetrübten Befriedigung. Mittelpunkt ihres Lebens blieb die Herberge »Zu den Acht Glückseligkeiten« und die kleine christliche Gemeinde, die sich langsam um sie bildete. Hausarbeit und Missionsarbeit wurden oft lange unterbrochen durch ihre Maultierreisen, auf denen ihr immer neue Abenteuer begegneten. Aus Wochen wurden Monate, aus Monaten Jahre — und jeder Tag brachte ihr seine eigene Ernte an Glück. Wohl gelangten von Zeit zu Zeit Nachrichten von »da draußen« über die Berge, die Maultiertreiber wußten manches zu erzählen, aber das waren Ereignisse aus einer anderen Welt, die die Menschen hier kaum etwas anging, eine Welt hinter der breiten Barriere des Gelben Flusses, so fern fast wie der Mond. Das Leben der Menschen hier erhielt Sinn und Rhythmus durch den Gang der Jahreszeiten. Im Winter glitzerte Rauhreif auf den Ziegeldächern der Pagoden, der Atem von Mensch und Tier hing als Nebelwölkchen in der klaren Luft, eine Eisschicht bedeckte die Trinkeimer der Tiere, lange, in der Sonne tropfende Eiszapfen hingen von den Nasen der bronzenen Drachen herab, mit denen die Ecken der Tempeldächer

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