Eine unbegabte Frau
gedeckt; staubige Pfade führten von einem zum andern. Mittelpunkt des dunklen Raumes, der Wohn- und Schlafzimmer jedes Hauses bildete, war das gemeinsame Backsteinbett. Der roh gezimmerte Tisch auf dem gestampften Fußboden trug blaugemustertes Porzellangeschirr, die hölzernen Eßstäbchen lagen daneben. Es wimmelte von Kindern — kleine, schmutzige, quäkende, in Kissen geschnürte Wesen mit bräunlichen Gesichtern, manche noch an der Brust der Mutter; andere quirlten um Gladys’ Maultier herum wie hüpfende Wellen um einen Kahn. Das Dorf lag einsam und lieblich zwischen ringsum steil auf ragenden Bergen; vor den Häusern blühten die Pflaumen- und Pfirsichbäume und kleine Felder mit gelbem Senf. An der südlichen Bergseite kletterten schmale Terrassen empor, die bedeckt waren mit dunklen Baumwollstauden und hellgrüner Hirse.
Neugierig und aufgeregt liefen die Leute zusammen, als Gladys mit ihrer Wache zum Tor hereinritt. Die Soldaten fragten nach dem Dorfältesten und teilten ihm, als er herzueilte, den Befehl des Mandarins mit. Er war ein Bauer, ein schrumpeliger alter Mann mit dünnem Ziegenbart, aber er war dem Mandarin gegenüber für sein ganzes Dorf verantwortlich. Alter und Erfahrung hatten ihn zu diesem Posten aufsteigen lassen. Aufmerksam nickte er und befahl sogleich dem Ausrufer, die Dorfbewohner zusammenzutrommeln. Das war nicht ganz einfach; man mußte die Bauern von den Feldern, aus den Häusern, aus den Ställen herbeiholen. Als alle versammelt waren, teilte ihnen der Älteste mit hoher, brüchiger Stimme mit, daß das Füßebinden von heute ab verboten sei. Auch solchen Kindern, deren Füße sich noch erholen könnten, sollten die Bandagen abgenommen werden. Es sei Befehl des Mandarins. Dann wiederholten die Soldaten, die sich in ihrer neugewonnenen Autorität sonnten, nochmals die Verordnung und betonten unmißverständlich: Jeder, der nicht gehorcht, wandert sofort ins Gefängnis, wo ihn bekanntlich nichts Angenehmes erwartet!
Hierauf gaben sie Gladys einen Wink, sie möge nun mit der Inspektion beginnen. Gladys wußte nicht recht, wie es weitergehen sollte, aber um sich keine Blöße zu geben, schritt sie entschlossen über den Platz auf das nächste kleine Haus zu. Hinter ihr her drängte die Menge, und Gladys war insgeheim froh über die Gegenwart ihrer zwei rauhen Soldaten, als sie nun durch die offene Tür in das Haus eintrat. Ihre Wache hatte sich bereits gewichtig vor der Haustür postiert.
Drinnen war es ordentlich und sauber, Möbel fehlten allerdings ganz. Nur ein paar Kochtöpfe und etwas Geschirr standen herum; auf dem K’ang, dem steinernen Bett der Familie, lag ein Haufen gesteppter Wattedecken. Ein schwarzäugiges Mädelchen von etwa drei Jahren klammerte sich an die Hosen der Mutter und schaute ängstlich hinter deren Beinen hervor auf Gladys. Ein kurzer Blick genügte, um zu erkennen, daß die Füße des Kindes bandagiert waren.
»Die Kleine da« — sagte Gladys und versuchte, ihrer Stimme Autorität zu verleihen — »bindet ihre Füße auf!«
Zwei Nachbarinnen und die Großmutter waren inzwischen hereingekommen. Die Mutter nahm das Kind auf den Schoß, und die vier Frauen begannen, die Binden abzuwickeln. Für die amtliche Fußinspektorin war die schwierigste Frage, wie sie in dieser ungewohnten Situation mit ihrer Befangenheit fertig werden sollte. Das einfachste war, die Beschäftigung der Frauen mit allerlei Reden und Bemerkungen zu begleiten.
»So ist’s recht. Nur weiter! Beeilt euch ein bißchen! Wenn Gott gewollt hätte, daß kleine Mädchen scheußliche kurze, dicke Füße hätten, dann hätte er sie doch gleich so erschaffen, glaubt ihr das nicht auch? Füße sind zum Gehen da und nicht, um damit schwerfällig über den Boden hinzuschlurfen, nicht wahr? Ob eure Männer damit einverstanden sind oder nicht, das ist mir gleich. Sie sollen es nur eine Zeitlang selber ausprobieren, ob es ihnen passen würde, mit solch kleinen Klumpfüßchen herumzuhumpeln. Und wenn euch irgend jemand dazu überreden will, diese Unsitte wieder aufzunehmen, kommt er sofort ins Gefängnis. Das ist von nun ab Gesetz...«
Die Binden fielen ab, und ein Paar winzige weiße Füße kamen zum Vorschein, deren Zehen scharf nach unten abgebogen und in die Sohlen hineingedrückt waren.
»Seht doch nur diese Füße an!« rief Gladys aus. »Das ist ja abscheulich! Eine Schande ist das! Wie soll denn das arme Kind jemals ordentlich laufen können!«
Fast stieß sie in ihrem Eifer die
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