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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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dem vergeblichen Versuch, sie zu glätten. Es war unangenehm, daß der Mandarin sie mitten in der Arbeit antraf, aber für Vorbereitungen blieb nun keine Zeit mehr. Schließlich war er selbst daran schuld; er hätte ihr eben vorher von seinem Besuch Mitteilung machen sollen.
    Gladys lief die Treppe hinunter in den Hof, während eben das Gefolge begann, sich dort aufzustellen. Das Bild war so unerhört prächtig, daß sie vor lauter Staunen innehielt. Kulis trugen gerade die prunkvolle, rot und golden lackierte Sänfte herein, deren Inneres durch Vorhänge gegen neugierige Blicke geschützt war. Zu beiden Seiten der Sänfte schritten die Sekretäre des Mandarins in glatten, dunkelblauen Seidengewändern, während die übrigen Begleiter, in kostbare farbige Seide aller Schattierungen gekleidet, sich in respektvoller Entfernung hielten. Die eleganten, gelehrt aussehenden Herren mit den klugen schwarzen Schlitzaugen, den blaßgelblichen Gesichtern und enganliegenden Käppchen bildeten einen malerischen Hintergrund. Einer der Sekretäre öffnete behutsam die Tür der Sänfte und streckte den Arm aus, um dem Mandarin beim Aussteigen behilflich zu sein. Gladys’ Augen wurden ganz rund vor Staunen, als sie ihn erblickte. Wie aus dem Märchen oder aus einer Revue herausgetreten, stand er inmitten der Seidenpracht seiner Begleiter. Er war groß und schwarzhaarig; von dem bleichen Elfenbeinton seines Gesichts hob sich der schwarze Schnurrbart ab, dessen Enden im Bogen von den Wangen herabhingen. Sein Gewand fiel glatt und weich bis auf die spitzen schwarzen Schuhe. Das Schönste aber waren die weiten Ärmel, die ganz mit seidenen Borten bedeckt waren, eine immer herrlicher bestickt als die andere, in reichen Mustern aus gelben, blauen, grünen und roten Seidenfäden. Sein langer, schwarzglänzender Zopf hing ihm über den Rücken, den Kopf schmückte ein schwarzer dreieckiger Hut mit einem roten Pompon auf der Spitze; eine schwarze Quaste baumelte bis auf die Schulter hinab. Die Finger mit den sehr langen, spitzen Nägeln hielten einen Fächer aus durchbrochener Ladearbeit.
    Als er Gladys ansah, schloß sie schnell ihren offenen Mund und schluckte trocken; dabei verbeugte sie sich tief. Als sie sich endlich wieder aufrichtete, um Luft zu holen, stand er noch immer unbeweglich und blickte auf sie herab — mit einem leicht bekümmerten Ausdruck, wie ihr schien. Hinter ihm war sein Gefolge gruppiert wie eine Vase leuchtender Blumen. Vor lauter Verlegenheit fiel Gladys kein Wort der Begrüßung ein, aber sie dachte, eine Verbeugung mehr wäre vielleicht nicht fehl am Platze: sie knickte in der Taille ab, zählte bis fünf, kehrte in die Senkrechte zurück und entschied, daß sie nun auch für den höchstgeborenen, allerehrwürdigsten Mandarin genug Untertanengeist bezeigt habe.
    »Ich komme, um Ihren Rat zu hören«, sprach er schließlich.
    »Oh!« erwiderte Gladys. Vermutlich war es keine sehr intelligente Antwort, aber dieser unvermutete Besuch hatte sie so über alle Maßen verwirrt, daß ihr in diesem Moment absolut nichts Gescheiteres einfiel.
    »Es wird Ihnen nicht neu sein«, fuhr er fort, »daß in unserer Provinz seit Generationen die Sitte herrscht, die Füße der Frauen so klein wie möglich zu halten?«
    »Ja — allerdings«, murmelte sie. Er sprach ein reines und blumiges Chinesisch, und Gladys war sehr zufrieden mit sich, daß sie ihn so gut verstehen konnte.
    »Die Füße der Mädchen werden bei uns bald nach der Geburt fest eingebunden«, setzte er hinzu.
    »Ach!« sagte Gladys wieder. Es schien ihr, als ob sie in dieser Unterhaltung nicht gerade eine überragende Rolle spielte. Sie wußte im Grunde recht gut über die Sitte des Fußeinbindens Bescheid; aber solange sie nicht übersah, wohin diese Unterredung steuerte, war auf jeden Fall Vorsicht geboten und jede Antwort so unverbindlich wie möglich zu halten.
    »Die Zentralregierung hat vor kurzem angeordnet, daß dieser Brauch sofort zu verbieten ist.«
    »Ich verstehe«, sagte Gladys.
    »In unserer Provinz haben alle Frauen verkrüppelte Füße. Darum muß jemand mit großen Füßen die Überwachung durchführen.«
    Bestürzt sah Gladys plötzlich auf ihre eigenen Schuhe nieder. In England galten Schuhe mit der Nummer sechsunddreißig als besonders klein, aber hier in China wurden sie als wahre Ungeheuer angestaunt.
    »Diese Arbeit kann natürlich nicht von einem Mann übernommen werden. Wir brauchen eine Frau dazu. Sie haben, wie ich hörte, Bekannte in

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