Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
Vom Netzwerk:
von seiten eines Dorfältesten ist mir zu melden; das Weitere übernehme ich selbst. Sie handeln mit meiner Vollmacht und haben mir persönlich Bericht zu erstatten. Die Zentralregierang legt größten Wert auf die Abschaffung dieser Unsitte. Sie müssen also sofort an Ihre Aufgabe gehen. Sind Sie einverstanden?«
    Gladys blieb während der langen Rede Zeit genug, ihre Gedanken zu ordnen. Warum hatte sie nur nicht eher daran gedacht — ein Maultier, um in die fernsten Dörfer zu reiten? Eine Wache zu ihrem Schutz? Das war ja eine unvergleichliche Gelegenheit, jeden Winkel der ganzen Provinz zu besuchen. Und überall konnte sie das Christentum predigen, wenn ihre amtliche Aufgabe erledigt war. Halt — würde der Hohe Herr das erlauben? Und konnte sie es wagen, ihm eine »Bedingung« zu stellen? Um dessentwillen, das ihr einzig am Herzen lag: sie beschloß, ihn zu fragen, auch auf die Gefahr seines Mißfallens hin.
    »Hoher Mandarin«, begann sie, »ich muß Sie auf eines aufmerksam machen: daß ich nämlich, wohin ich auch käme, versuchen würde, die Menschen zum Christentum zu bekehren.«
    Eine kurze Stille folgte. Gladys wartete gespannt, ob ihre Worte nicht einen groben Mißgriff bedeuteten. Dann sagte der Mandarin ruhig: »Ihre Religion und Ihre Predigten sind mir nicht wichtig. Jeder mag sich nach seinem eigenen Gewissen verhalten. Wichtig ist mir nur, daß Sie den amtlichen Auftrag übernehmen. Die Zentralregierung ist ungeduldig!«
    Gladys kannte die Gepflogenheiten chinesischer Verwaltung gut genug, um zu ahnen, daß die Zentralregierung wahrscheinlich schon länger auf Zahlen und Statistiken gedrängt hatte, die über das Fußabbinden in dieser Bergprovinz berichteten. Sie freute sich schon auf ihren Brief nach Hause: Gladys Aylward beim Mandarin von Yang Cheng als Fußinspektorin angestellt!
    Sie verbeugte sich tief. »Es ist mir eine Freude, Ihnen behilflich zu sein. Ich nehme die Stellung gern an.«
    Als sie sich aufrichtete, um wieder Luft zu bekommen, bemerkte sie ein leicht amüsiertes Lächeln in seinen Augen.
    »Danke«, sagte er. »Das Maultier und die Soldaten werden morgen früh zu Ihrer Verfügung stehen. Ich wünsche Ihnen guten Erfolg.«
    Alle verneigten sich und lächelten. Der »fremde Teufel« war zu einer bemerkenswerten Persönlichkeit, zur Repräsentantin des Mandarins aufgerückt. Man war nun in der Lage, dem lästigen Untersekretär dort hinter den Bergen in Taijüan eine kurze, bestimmte Antwort zu geben. Die Krisis war abgewendet. Die Deputation verabschiedete sich.
    Chang trat jetzt aus seiner Küchentür, um Gladys mit einer Art erschrockener Neugier zu betrachten. »Was für eine bedeutende Dame sind Sie geworden!« sagte er fast ehrfürchtig. »Sie sind Angestellte des Yamen, des Mandarins persönliche Dienerin!« Er verbeugte sich tief und unterwürfig — es war das erstemal, daß Gladys ihm imponierte.
    »Bedeutend? Mit diesem Gehalt?« lachte Gladys. »Ein Maß Hirse und vier Käsch pro Tag! Reich kann ich davon wohl nicht werden, meinst du nicht auch?«
    »Es ist aber trotzdem eine Ehre«, beharrte Chang. Er war entschlossen, aus dieser Sache jedweden Tropfen Bürgerstolz für Gladys und sich selber herauszuholen. »Sie sind eine Amtsperson! Persönliche Fußinspektorin des Mandarins!«
    »Persönliche Fußinspektorin des Mandarins!« rief sie belustigt. Plötzlich kam ihr die ganze, überwältigende Komik der Situation zum Bewußtsein, und sie brach in lautes Lachen aus. Chang staunte sie fassungslos an. Achselzuckend schüttelte er den Kopf, und während er zu seinen Kochtöpfen zurückkehrte, murmelte er grimmig etwas vor sich hin über die Verrücktheit aller fremden Teufelsweiber.
    Gladys hatte, ehe sie die Reisen in entferntere Dörfer antrat, noch viel Arbeit mit Inspektionen in Yang Cheng selbst sowie in den Häusern und Wohnhöhlen außerhalb der Stadtmauern. Chang hatte recht gehabt: die offizielle Vollmacht des Yamen und dazu die greifbare Nähe zweier übrigens recht schlampiger Soldaten verliehen ihr eine Wichtigkeit, die sie noch nie in ihrem Leben gespürt und bestimmt niemals erwartet hatte. Die Leute standen auf, wenn sie mit ihnen sprach, Kinderfüße wurden im Rekordtempo ausgewickelt, wenn sie es verlangte.
    Das erste Dorf, in das sie als amtliche Fußinspektorin kam, blieb ihr unvergessen. Es lag an einem reißenden Fluß, der durch eine enge Schlucht hinabdonnerte. Die Häuser waren einstöckig aus Felsbrocken und Lehm gebaut und mit grünen Ziegeln

Weitere Kostenlose Bücher