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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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amtlicher Befehl!« Er fuchtelte mit dem roten Zettel und trat vor lauter Aufregung von einem Fuß auf den andern.
    Lu-Yung-Cheng blickte ängstlich auf Gladys: »Wenn Sie ein rotes Papier vom Yamen bekommen, müssen Sie gehorchen.« Das Beben seiner Stimme war nicht zu überhören.
    »Dann gehen Sie erst einmal und fragen, um was es sich handelt«, entschied Gladys. »Das kann doch nur eine Männersache sein. Ich verstehe nichts von Gefängnissen, bin mein Leben lang noch in keinem gewesen. Was wir dort sollen, ist mir völlig unklar.«
    In Lu-Yung-Chengs Gesicht malte sich alles andere als Begeisterung über das, was ihm da zugemutet wurde. »Beeilt euch! Kommt schnell«, rief der Bote.
    Mit allen Zeichen inneren Widerstandes folgte ihm Lu-Yung-Cheng zum Tor. Gladys sah ihm nach, wie er den Ausgang erreichte, sich dann blitzschnell nach ihr umsah und im gleichen Moment links um die Ecke verschwunden war, während der Bote sich nach rechts wandte. Sie hörte noch die Schritte des Flüchtenden außerhalb der Mauer, die sich im höchsten Tempo entfernten. Aber kaum zwei Sekunden später hatte der Bote seinen Verlust bemerkt. Schon stürzte er wieder zum Tor herein, schrie »Ai-i-i« und schüttelte wütend die Faust. Er rannte geradeswegs auf Gladys los:
    »Dann müssen Sie mit!« rief er, seine Stimme überschlug sich fast.
    »Es ist eine amtliche Vorladung! Sie haben Befehl, zu kommen! Da gibt es nichts einzuwenden! Los! Mit mir! Wenn Sie nicht gehorchen, werden Sie es schwer zu bereuen haben!«
    »Meinetwegen«, sagte Gladys nachsichtig. »Ich komme schon. Was ist nur mit Lu-Yung-Cheng? Anscheinend ist ihm schlecht geworden, oder wer weiß, was ihm durch den Sinn gefahren ist. Aber was ich bei einer Meuterei im Gefängnis soll, sehe ich wirklich nicht ein...«
    Sie hasteten die Straße hinauf und durch das Westtor in die Stadt.
    Gleich hinter dem Tor begannen die kahlen Außenmauern des Gefängnisses, über die ein wüster Lärm bis auf die Straße drang: Brüllen, Zetern, Kreischen von Männerstimmen — ein scheußliches, gewalttätiges Getöse.
    »Um des Himmels willen«, rief Gladys aus, »das scheint ja ein toller Aufruhr zu sein, nach dem Krach zu schließen.«
    Der Gefängnisdirektor begegnete ihr am Eingang; er sah bleich aus; seine Lippen waren verzweifelt und ratlos fest zusammengepreßt. Etwa ein halbes Dutzend seiner Mitarbeiter bildete um ihn eine aufgeregte Gruppe.
    »Wir freuen uns, daß Sie gekommen sind«, sagte er schnell. »Die Gefangenen meutern und schlagen sich gegenseitig tot.«
    »Das hört man«, bestätigte Gladys gelassen. »Aber ich bin nur Missionarin. Warum lassen Sie nicht Ihre Soldaten kommen, um der Sache ein Ende zu machen?«
    »Unter den Gefangenen sind Mörder, Banditen und Diebe«, erklärte der Direktor. »Die Soldaten haben Angst, weil sie in der Minderheit sind.«
    »Das tut mir leid«, entgegnete Gladys. »Aber was erwarten Sie von mir? Ich weiß ja nicht einmal, weshalb Sie mich gerufen haben...«
    Der Gefängnisdirektor machte einen Schritt auf sie zu: »Sie müssen hineingehen und den Kampf beenden!«
    »Ich soll dort hineingehen...!« Gladys’ Mund öffnete sich, und ihre Augen wurden ganz rund vor Erstaunen. »Ich, ich dort hinein! Sind Sie verrückt? Wenn ich hineingehe, erschlagen sie mich!«
    »Was soll Ihnen passieren? Sie erzählen den Leuten immer, daß Sie gekommen sind, weil der lebendige Gott in Ihnen wohnt...«
    Der Gouverneur stieß die Worte bebend hervor; seine Lippen zuckten nervös, sein Blick spiegelte die nahe Gefahr. Gladys fühlte, wie ein kalter Schauer ihr plötzlich über den Rücken lief; sie schluckte, es fühlte sich an, als ob sie Sand in der Kehle hätte.
    »Der lebendige Gott?« stammelte sie.
    »Sie predigen es doch in allen Städten und Dörfern. Wenn Sie die Wahrheit sagen, daß Ihr Gott Sie vor allem Leid bewahrt, dann können Sie der Meuterei ein Ende machen.«
    Gladys starrte ihn an. In ihrem Kopf kreisten die Gedanken verwirrt und erregt, und angestrengt suchte sie nach Worten, die diesem einfachen Mann ihren Glauben ausdrücken, sein Mißverständnis aufklären könnten. Eine kleine Zelle in ihrem Gehirn aber sandte ganz deutlich und unablässig eine kurze Botschaft in den Strudel ihrer aufgescheuchten Gedanken hinein:
    Er hat recht! Du hast immer vom Schutz deines christlichen Gottes gepredigt. Wenn du jetzt versagst, kannst du in Yang Cheng nicht mehr arbeiten. Bist du jetzt schwach im Glauben, dann vertraut dir niemand mehr. Es

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