Eine unbegabte Frau
die Tränen in die Augen trieb. Wie elend sahen diese Menschen aus — wie hoffnungslos! Die ausgemergelten Gesichter mit den scharfen Backenknochen, den verkniffenen Lippen; Gesichter, von Verlassenheit, Unwissenheit und Hunger gezeichnet. Schwarze Augen voll Furcht und Verzweiflung blickten in die ihren. Auswurf der Menschheit waren sie, halbe Menschen nur, lumpenbehängt, schmutzüberkrustet und von Läusen bedeckt. Sie schienen eher Tiere als Menschen, und Tierkäfige waren es auch, in denen sie rings um den Hof eingeschlossen wurden. Sie hätte am liebsten geweint, während sie ihnen jetzt gegenüberstand, daß es so erbärmliche, so elende Menschen auf der Erde geben mußte. Nicht ohne Anstrengung riß sie sich zusammen. Die Angst war vergangen, ja, aber sie brauchte ihre ganze Energie, um sich weiterhin durchzusetzen.
»Ihr solltet euch doch schämen«, rief sie und zankte sie aus wie eine erzürnte Mutter ihre ungezogenen Kinder. »So ein Krach! Und wie habt ihr euren Hof zugerichtet!« Sie schwenkte die Arme und wies auf die Leichen und das Blut. »Der Direktor hat mich zu euch geschickt, um nach euch zu sehen. Wenn ihr euren Hof sauber macht und mir versprecht, euch in Zukunft besser zu benehmen, werde ich ihn bitten, diesmal Milde walten zu lassen.« Sie bemühte sich, mit dem Blick die stillen Gestalten der Toten zu meiden. Sie fühlte, daß es wichtig war, die Aufmerksamkeit ihrer Zuhörer zu fesseln. »Warum habt ihr euch geschlagen? Was sind eure Klagen?«
Es kam keine Antwort. Einige senkten beschämt den Kopf.
»Dann wollen wir es so machen, daß ihr einen Sprecher wählt, und der soll mir sagen, woran es liegt. Und dann könnt ihr gleich anfangen, den Hof hier zu säubern. Jetzt geht alle hinüber in die Ecke dort und bestimmt euren Sprecher. Ich warte hier.«
Die Gefangenen scharten sich in der Ecke zusammen, die sie ihnen gezeigt hatte, und besprachen sich untereinander. Schon nach einigen Minuten näherte sich ihr wieder einer der Kräftigeren und Größeren unter den Männern. Er war wie die anderen in Lumpen gehüllt.
»Ich heiße Feng«, sagte er. »Ich bin ihr Sprecher.«
Während die anderen den blutbefleckten Steinboden reinigten und die Leichen ordentlich nebeneinanderlegten, hörte Gladys Feng zu. Später erfuhr sie, daß Feng einmal buddhistischer Priester gewesen war. Wegen eines Diebstahls wurde er zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Er erklärte Gladys, daß eigentlich niemand mehr recht wisse, wie der Aufruhr angefangen hatte. Das »Hackmesser« — er deutete auf die Axt, die Gladys noch immer hielt — wurde ihnen jeden Tag eine Stunde lang zur Verfügung gestellt, um ihre Mahlzeit zu zerkleinern. Während des Essens fing einer Streit an, andere mischten sich ein, und so brach plötzlich, ohne daß sie genau gewußt hätten warum, dieser Vulkan von Leidenschaft aus, bis das Blut in Strömen floß. Einen genauen Grund konnte er eigentlich nicht angeben. Vielleicht kam es daher, daß ein Teil dieser Männer schon viele Jahre hier eingeschlossen war, meinte er.
Gladys wußte, daß sie Hunger litten, wenn nicht Freunde oder Verwandte sie mit Lebensmitteln unterstützten. Wenn man hungerte, war es sehr schwer, zuzusehen, wie andere sich an guten Gaben delektierten. Gelegentlich wurde einer aus ihren Reihen vom Henker in den Hof hinausgeführt und dort hingerichtet. Viele von ihnen lebten ständig unter dieser entnervenden Drohung. Den Grund der Meuterei konnte Feng nicht erklären; aber die Mauern waren hoch und das Tor stark; sie sahen niemals etwas von der Außenwelt, nie eine Frau, nie die Berge, keinen blühenden Baum und kein freundliches Gesicht. Das erzeugte diesen unerträglichen Druck, der in einem wilden, gewaltsamen Ausbruch sich befreit hatte. Das, so meinte Feng, war geschehen. Es tat ihnen allen sehr leid.
»Was treibt ihr hier den ganzen Tag?« fragte Gladys ernst.
»Treiben? Hier gibt es nichts zu tun.«
»Überhaupt keine Beschäftigung?«
»Keine!«
»Aber ein Mensch muß doch Arbeit haben, muß irgend etwas tun. Ich will mit dem Direktor darüber sprechen.«
In diesem Augenblick merkte sie, daß der Gefängnisdirektor und sein Stab hinter ihr standen. Die kleine Öffnung am Ende des Ganges, durch die er und seine Begleitung alles mit angehört hatten, entdeckte sie erst später. Nun der Lärm der Meuterei aufgehört hatte, fanden sie es weniger gefährlich, hereinzukommen und beim Friedensvertrag ein Wort mitzureden.
Der Direktor verbeugte sich vor
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