Eine unbegabte Frau
geschmückt waren. Von Dezember bis März zog man Tag und Nacht die warmen Hosen und Mäntel nicht aus, die dick mit Baumwollwatte gefüttert waren. Heulend brach der Nordwind herein, warf Schnee in die Täler und Schluchten, ließ die Straßen der Stadt in einer hüfthohen weißen Decke versinken und preßte die weißen Massen in den Mauerwinkeln zu phantastischen Skulpturen. Alle Geräusche erstarben, sogar das Echo in den Tälern blieb stumm, und in den Gebirgen ringsum regte sich nichts mehr außer dem sturmgepeitschten Flug des Schnees und den Lawinen, die donnernd zu Tal fuhren. Das Leben kam fast zum Stillstand.
Die Menschen sammelten sich um die Öfen, flickten ihre Kleider, stopften und nähten, schusterten neue Schuhe und machten Pläne für das Frühjahr. Die Maultiere in den Ställen schlugen mit den Schwänzen und schauten mit feuchten braunen Augen hinaus in die blendendweiße Welt; nur wenn das Futter in ihre Krippe geschüttet wurde, wieherten sie leise. Kinder wurden gezeugt, alte Männer träumten an dem warmen K’ang, zahnlose Großmütter warteten ungeduldig auf das Essen und verkürzten den Kindern die langen Stunden mit Märchen, die andere Großmütter vor tausend Jahren ausgedacht hatten. Man machte keine Besuche, man sprach wenig. Man saß geborgen in dieser winterlichen Welt; man hatte Korn genug gelagert, um durchzukommen, und wartete geduldig, bis die Schneemassen forttauten.
Und dann endlich kam der Frühling: das alte und immer neue Föhnweh im Blut und in den Knochen kündigte ihn an. Und er schüttete seinen unerschöpflichen Reichtum an Jugendfrische und Schönheit vor den empfänglicher gewordenen Augen, vor den geöffneten Herzen aus: der Himmel mit den zarten Wolken, die gezahnten Felsnadeln, die angeschwollenen Wasser, die sich tosend in die Schlünde stürzten, die Blumen an den Flußufern, in denen hilflos stockbeinige Maultierfohlen stelzten und die weichen, piepsenden Goldbälle der Entenküken verschwanden. Kinder riefen und lachten wieder in der Sonne, den Mädchen wurden plötzlich die Burschen interessant, und das junge Mannsvolk war unruhig von aufflammenden Leidenschaften. Die Welt war erfüllt von leuchtendem, innigem Leben, daß Gladys ganz tief und sicher empfand: nur ein Gott unendlichen Erbarmens, ein Gott der Liebe und der sanften Führung konnte sie erdacht haben.
In diesem weiten Bezirk hoher Berge und tiefer Täler, wo das Leben hart und einfach war, konnte ein Mensch wie Gladys sich ganz entfalten. Alles, was sie früher erlebt hatte, war nur Vorbereitung für diese Jahre, und alles, was ihr jetzt widerfuhr, sollte sich einst wiederum als Vorbereitung für das Kommende erweisen. Gladys war sich bewußt, daß sie hier auf einem Boden lebte, über den durch Jahrtausende in langer Kette die Bauern, die Reichen, die Ehrgeizigen, die Mächtigen wie auf einer Bühne dahingezogen waren, oft gepeitscht vom schaurigen Dämon des Hungers. Und sie wußte auch, daß dieses Bergvolk eine Religion ohne Saft und Kraft von sich stoßen würde, so wie es alles Fremde bisher abgewehrt und aufgesogen hatte. Die Religion, die Gladys ihren Bauern predigte, war schlicht. Sie lehrte Kraft aus Demut zu gewinnen, Weisheit aus der Liebe und ewiges Leben aus dem Glauben.
Als sie noch nicht lange in Yang Cheng war — in ihrem zweiten Jahr — , sandte ihr Frau Smith aus Tsechow einen sympathischen jungen Christen namens Lu-Yung-Cheng. Zugleich hatte Frau Smith versprochen, für seinen höchst bescheidenen Monatslohn selbst aufzukommen. Gladys konnte ihn gut gebrauchen, und sei es auch nur, um Changs reichlich romantische Auslegung der Heiligen Schrift ein wenig im Zaum zu halten. Ungefähr zwei Wochen nach seiner Ankunft standen Gladys und er im Hof, als ein Bote vom Yamen hereinstürmte. Er schwenkte ein rotes Papier in der Hand und sprudelte so schnell seine Neuigkeit heraus, daß Gladys ihn kaum verstehen konnte.
»Was will er mit dem roten Papier?« erkundigte sie sich bei Lu-Yung-Cheng.
»Es ist eine amtliche Vorladung vom Yamen«, antwortete der junge Mann nervös. »Im Männergefängnis ist eine Meuterei ausgebrochen.«
Gladys fand das nicht besonders interessant. »Ach so«, sagte sie.
»Sie müssen sofort kommen«, drängte der Bote aufgeregt, »es ist wichtig.«
Gladys sah ihn erstaunt an. »Eine Meuterei im Gefängnis! Das hat doch nichts mit meiner Fußinspektion zu tun!« sagte sie lachend.
»Sie müssen sofort kommen!« wiederholte der Bote. »Das ist ein
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