Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
Vom Netzwerk:
war eine fast übermenschliche Herausforderung. Irgendwie aber mußte sie »das Gesicht wahren«. Diese törichten, unverständigen Menschen! — Wie konnte sie sich in dieses Gefängnis hineinwagen? Hinter diesen Mauern ging ein Haufen von Mördern, Dieben und Banditen aufeinander los, um sich gegenseitig totzuschlagen! Dem Lärm nach, der noch angeschwollen war, tobte da drinnen eine Hölle. »Ich muß es versuchen«, sagte Gladys Aylward zu sich selbst, »ich muß es versuchen. O Gott, gib mir Kraft!«
    Sie blickte in das schreckensbleiche Gesicht des Gefängnisdirektors und wußte, daß sie ebenso aussah. »Es ist gut«, sagte sie. »Machen Sie die Tür auf, ich gehe hinein.« Mehr brachte sie im Augenblick nicht hervor.
    »Den Schlüssel!« rief der Direktor hastig. »Den Schlüssel, schnell!«
    Einer der Wächter brachte einen riesigen eisernen Schlüssel. Die mächtigen Bartzacken knirschten laut im Schlüsselloch, schwer öffnete sich die eisenbeschlagene Tür. Gladys wurde von hinten vorwärtsgestoßen, die Tür schloß sich, und sie hörte wieder den Schlüssel im Schloß kreischen. Es war dunkel. Sie war ins Gefängnis gesperrt mit einer Horde tobender Verbrecher, die, nach dem Getöse zu urteilen, vollständig von Sinnen waren. Vor ihr lag ein langer dunkler Gang, der sich in einen Hof zu öffnen schien. In dem hellen Ausschnitt sah sie Gestalten vorbeirennen. Mit stockenden Schritten ging sie vorwärts; am Ende des Ganges aber blieb sie mit einem Ruck stehen, vor Entsetzen wie versteinert.
    Der Hof maß nur etwa zehn Meter im Quadrat und war auf allen vier Seiten von großen, käfigartigen Zellen eingefaßt. In diesem engen Geviert tobte eine wütende, sinnlose Schlacht unter den Insassen. Ein paar leblose Körper lagen hingestreckt auf den Steinplatten; ein Toter, dem noch das Blut aus einer klaffenden Kopfwunde sickerte, ganz in ihrer Nähe. Überall Blut. Auch in den Zellen wurde gekämpft, aber die Männer im Hof beobachteten gebannt einen Gefangenen, der eine große, blutbefleckte Axt schwang. Während Gladys zu ihm hinsah, stürzte er sich plötzlich auf die Gruppe, die jetzt wild nach allen Seiten des kleinen Platzes auseinanderstob. Gladys stand angewurzelt da, sie rang nach Fassung beim Anblick dieser schauerlichen Szene. Niemand nahm im geringsten Notiz von ihr. Der Mann griff wieder an, die anderen flohen in höchster Angst vor ihm in alle Winkel des engen Hofes. Jetzt verfolgte er einen einzelnen Gefangenen. Mit erhobener Axt rannte er ihm nach, der Fliehende aber lief auf Gladys zu und wich dann, sich blitzschnell duckend, beiseite, um dem Mordinstrument zu entgehen. Jetzt hielt der Irre kurz vor Gladys inne. Ohne einen Plan, ja ohne zu wissen, was sie weiter tun sollte, trat sie ihm mit einem zornigen Schritt entgegen.
    »Gib mir die Axt«, sagte sie leidenschaftlich. »Gib sie mir sofort!«
    Der Mann wandte sich ihr zu. Einen stummen Moment waren seine blutunterlaufenen Augen auf sie gerichtet. Dann änderte sich plötzlich sein Gesichtsausdruck, und demütig streckte er ihr seinen Arm mit der Axt entgegen. Mit einer schnellen Bewegung nahm sie ihm die Waffe ab und stellte sie neben sich, die Hand noch am Griff. Dabei dachte sie seltsamerweise, daß das blutige Mordinstrument ihre Hose beschmutzen könnte. Die anderen Gefangenen, die sich voller Angst in die Ecken des Hofes drückten, beobachteten den Vorgang in atemloser Spannung. In diesem Moment höchster Dramatik schien alles Leben erstarrt, hing alles in der Schwebe zögernden Gleichgewichts. Gladys fühlte, daß sie sofort handeln mußte, sonst drohte der Sieg in die Niederlage umzuschlagen.
    »Ihr alle!« rief sie, »kommt einmal hierher. Kommt her und stellt euch hier vor mir auf!«
    Einen ganz kurzen Augenblick lang schien es ihr merkwürdig, daß das ihre eigene Stimme sein sollte — so schrill hatte sie noch nie geklungen. Sie schrie die Männer an, dirigierte sie so energisch wie ein zu kurz geratener Unteroffizier, wie ein Schulmeister eine Klasse ungezogener Kinder. »Los — alle hintereinander! Du da! Komm hierher, stell dich nur hier vor mir mit auf!«
    Gehorsam schlurften die Gefangenen herbei: ein Haufen in Lumpen gekleideter Gestalten, bildeten sie in mehreren Reihen einen Halbkreis um Gladys.
    Mit ihren großen braunen Augen sah sie die noch erregte Menge funkelnd und wortlos an.
    Und erst jetzt verging ganz plötzlich ihre eigene Angst, und an ihrer Stelle fühlte sie ein ungeheures, herzbewegendes Mitleid, das ihr

Weitere Kostenlose Bücher