Eine unbegabte Frau
überreden, in Ihrer Mission zu predigen.«
»Ein guter Gedanke!« stimmte Gladys sofort bei. »Und dazu fällt mir noch etwas ein: Wir könnten Ihre Gefangenen herführen, um ihm zuzuhören.«
»Sie meinen doch nicht, daß wir die Gefangenen aus dem Gefängnis herauslassen können!«
Der Direktor war ganz verstört.
»Das ist doch unmöglich!«
»Warum unmöglich? Manche haben diesen Hof seit zehn Jahren nicht verlassen. Das wäre ein großer Tag für sie alle! Und es täte ihnen gut!«
»Aber sie sind Gefangene! Verbrecher!«
»Sie könnten sie bewachen lassen. Und für Ihren Freund wäre das sehr schmeichelhaft— wenn er ein guter Christ ist.«
Der Direktor hatte Gladys mit einiger Ehrfurcht betrachtet, seit sie in seinem Gefängnis die Meuterei beendet hatte. Damals jedenfalls hatte sich ihr Glauben glänzend bewährt — der seine nicht. So gab er, widerstrebend zwar, nach längerem Zureden seine Einwilligung, die Gefangenen für einen Nachmittag aus den Mauern zu lassen.
Unvergeßlich blieb Gladys der Sonntag, an dem die Gefangenen zum Gottesdienst kamen. Mit schweren Ketten aneinander gefesselt, hatte man sie durch die ganze Stadt zum Westtor hinausgeführt. Die Einwohner von Yang Cheng säumten die Straßen, um den befremdlichen Zug anzugaffen. Außerhalb des Tores blieb der Haufe wie festgewurzelt stehen — die Männer starrten auf die Berge ringsum. Die Wachsoldaten gönnten ihnen ganze zwei Minuten, um den weiten Ausblick zu genießen. Dann marschierten sie durch die schmale Gasse und den Hof der Herberge »Zu den Acht Glückseligkeiten« in die frühere Ahnenhalle, die jetzt in einen Missionssaal verwandelt war.
Sie saßen alle auf dem Boden, während der würdevolle, strahlende Freund des Direktors für sie drei Stunden mit aller Kraft und sehr zu Herzen gehend predigte. Das war vielleicht der gesegnetste Gottesdienst, der je in der Provinz Schansi gehalten worden ist. Zum Schluß dankten sie Gladys durch ihren Sprecher mit tiefem Ernst dafür, daß ihnen die Freiheit dieses Nachmittags vergönnt worden war — und mit rasselnden Ketten marschierten sie wieder zurück in ihr Gefängnis.
In diesem zweiten Jahr in Yang Cheng war es auch, daß Gladys zum erstenmal einen kleinen Streit mit dem Mandarin hatte. Sie war eben von einer Fußinspektion in den Bergen zurückgekehrt und ging die Hauptstraße entlang, im Geiste die Rede vorbereitend, die sie ihm über diese Dienstreise zu halten gedachte. Er war ihr Vorgesetzter. Und er mußte deshalb von einigen Dingen unterrichtet werden, die, wie sie fand, einer Änderung unbedingt bedurften. »Mandarin«, wollte sie sagen, »ich möchte mit Ihnen über die Lage der Frauen sprechen.« Hier mußte sie eine kleine Pause machen, um ihren Worten den nötigen Nachdruck zu geben. »Ist es recht«, würde sie fortfahren, »daß ein Mann seine Frau schlagen darf? Ist es recht, daß ein Mann seine Frau verkaufen, ja sogar töten darf? Mir als Ihrer ergebenen und gehorsamen Dienerin drängen sich diese Probleme auf meinen Reisen in die Bergdörfer immer wieder auf. Ich möchte mir mit allem schuldigen Respekt gerne einmal die Frage erlauben, was Sie in dieser Richtung zu tun gedenken. Ich weiß, diese Zustände sind von alters her in China selbstverständlich; das macht sie aber doch nicht weniger abscheulich!«
Mitten im Gedanken hielt sie inne, als sie die Frau erblickte, die auf dem Pflaster saß, die Füße auf dem Fahrweg. Sie hatte eine dunkelbraune Hautfarbe, rohe Gesichtszüge und war ungemein schmutzig. Schwere silberne Ringe baumelten von ihren Ohrläppchen herab. In ihrem Haar steckten Schmucknadeln aus Silber und Jade, sie trug eine silberne Halskette und Armreifen aus getriebenem Silber. Ihre bauschigen Hosen waren an den Fesseln mit hellgrünen Borten eingefaßt. Diese zogen zuerst Gladys’ Aufmerksamkeit auf sich. Noch nie hatte sie in Schansi einen Besatz in dieser Farbe gesehen; die Frau mußte also aus einem Dorf stammen, das sie nicht kannte. Gladys ging auf die Fremde zu, um diese selber zu fragen. Als sie nähertrat, bemerkte sie das Kind; es lehnte am Knie der Frau: ein häßliches, kränkliches kleines Ding, in ein schmutzstarrendes Stückchen Lendentuch gewickelt, mit Beinchen wie Stöcke, einem geschwollenen Bauch, der auf Unterernährung schließen ließ, und Schorf, unter dem eitriges Wasser hervorquoll, an Kopf und Körper. Gladys war entsetzt. Bei dem Zustand des Kindes war es nicht einmal möglich, sein Geschlecht festzustellen.
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