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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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verschwenden, das doch bald einem anderen gehören würde! Schenkte die Frau ihrem Mann keinen Sohn, so wurde sie schnell entlassen zugunsten einer zweiten oder dritten oder gar vierten, die sich besser bewähren würde. Wurde aber ein Sohn geboren, so waren Stolz und Freude grenzenlos:
    Ein jeder Knabe wird ein Zepter halten,
    Des Sohnes Weinen tönt Musik den Alten.
    Der Scharlachseide Glanz wird ihn erhöhen,
    Als Fürst und König wird das Volk ihn sehen!
    Oft, wenn die Maultiertreiber von ihren Familien erzählten, bemerkte Gladys, daß die weiblichen Kinder nicht einmal als Familienmitglieder angesehen wurden. Ein Mann hatte zum Beispiel zwei Töchter und vier Söhne, aber wenn Gladys ihn nach der Anzahl seiner Kinder fragte, lautete die stolze Antwort: »Ich habe vier Kinder.«
    Wenn Ninepences Onkel versucht hatte, verbrecherischerweise seine Nichte verschwinden zu lassen, so war es bei der allgemeinen chinesischen Einstellung zweifelhaft, ob Ninepence vor Gericht jemals Genugtuung widerfahren wäre. Der Fall lag klar: Großvater und Großmutter waren gestorben und hatten Geld und eine Farm hinterlassen. Es gab nur zwei Erben, eben den schlimmen Onkel und Ninepence. Was wäre mit Ninepence geschehen, wenn der Raub gelungen wäre? Es war beklemmend, auch nur daran zu denken. Aber jetzt, nachdem sein Anschlag vereitelt war, bestritt der Onkel vor Gericht Gladys’ Ansprüche auf das Kind.
    Der Mandarin hatte sich von dem ganzen Vorfall berichten lassen und Gladys über die juristischen Zusammenhänge aufgeklärt. Sie mußte nun aber vor Gericht erscheinen, um ihre Ansprüche zu verteidigen.
    »Dort wäre ich aber von Anfang an im Nachteil«, wandte Gladys ein. »Eine chinesische Gerichtsverhandlung ist für mich etwas vollkommen Unbekanntes. Wie soll ich da etwas erreichen?«
    Milde und unbewegt blickte der Mandarin in Gladys’ fragende Augen. »Bevor Sie bei Gericht sprechen, bitte ich Sie, mich anzusehen«, sagte er höflich. »Sie dürfen nur ja oder nein sagen. Wenn ich den Kopf schüttele, müssen Sie nein sagen; wenn ich leicht nicke, sagen Sie ja. Verstehen Sie?«
    »Ja, ich verstehe. — Ich darf Ninepence jetzt nicht verlieren. Ich habe seit Jahren für sie gesorgt, und ich habe sie lieb.«
    »Sie wird Ihnen nicht genommen werden«, sagte der Mandarin ruhig. »Ich habe als Richter in diesem Streit zu entscheiden und kann Ihnen das versprechen. Aber die Sache muß geschickt verhandelt werden. Wenn Sie vor Gericht erscheinen, passen Sie gut auf und tun Sie genau das, was ich Ihnen sagte.«
    Der Verhandlungstag war gekommen. Der Bote vom Yamen brachte ein rotes Papier, und Gladys ging zum Gericht. Sie folgte aufmerksam den langen juristischen Argumenten der Rechtsanwälte, die die Sache des Onkels vertraten. Sie selbst mußte viele Fragen beantworten und achtete dabei sorgfältig auf jede leiseste Kopfbewegung des Mandarins.
    Die Verhandlung zog sich zwei Wochen hin, schließlich verkündete der Mandarin sein sorgfältig bedachtes Urteil.
    Ai-weh-deh wurde zum offiziellen Vormund für Ninepence bestimmt. Ninepences Großeltern hatten Land und Geld hinterlassen, und das Erbe sollte mm geteilt werden: eine Hälfte bekam Ai-weh-deh als rechtmäßiger Vormund, die andere Hälfte der Onkel. Ai-weh-deh durfte wählen, welchen Anteil sie vorzog, Land oder Geld. So lautete die Entscheidung des Mandarins, mit der auch der habgierige Onkel zufrieden schien. Mit dem Land konnte Gladys nichts anfangen, aber das Geld in Höhe von zweihundert Dollar bedeutete ein kleines Vermögen. Es wurde für Ninepence zurückgelegt, ein Teil für ihre Ausbildung verwandt und der Rest für den Fall ihrer Heirat als Mitgift bestimmt.

8. Kapitel

    Die Freundschaft zwischen dem Mandarin von Yang Cheng und dem Stubenmädchen der Younghusband ist wohl eine der seltensten in der Geschichte der west-östlichen Beziehungen. Obgleich Gladys das Chinesische so geläufig war wie ihre Muttersprache, brauchte sie Jahre, um das Wesen dieses Mannes — Schicht um Schicht — allmählich zu erkennen und bis zu seinem Grunde vorzudringen. Er war voller Rätsel. Er begegnete ihr höflich; sein kluges, mageres Gesicht mit den hohen Backenknochen und den dunklen Schlitzaugen blieb immer unbewegt; ein glänzender Zopf kam unter dem runden Seidenkäppchen hervor; seine Gewänder waren verschwenderisch in den herrlichsten Farben bestickt: purpur, blau, grün und golden leuchteten die vielverschlungenen Arabesken. Gladys erschien er stets wie einem alten

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