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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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ineinandergefügt, bildeten den Außenwall; dahinter erhob sich eine zweite Mauer. Den Wall wollten sie so breit und stark machen, daß ein Pferd mit Wagen darauf fahren konnte: daher schütteten sie eine Füllung aus Granit in den Zwischenraum. Sollten je Kanonen über die Berge herangebracht werden, so waren die Mauern fest genug, um einer Beschießung standzuhalten, und selbstverständlich völlig unangreifbar gegen Pfeile, Speere und Schleudergeschosse. Aber ein Überfall aus dem Himmel hätte nur von den Göttern gesandt sein können, dagegen gab es keinen Schutz. So hatten die Ahnen überlegt. Und ihre schönen Mauern umschlossen eng und unerschütterlich die wimmelnde kleine Stadt. Warfen die Japaner hier ihre Bomben mitten hinein, so konnten sie sicher sein, daß der Luftdruck innerhalb der einschließenden Mauern furchtbare Verheerungen anrichten mußte.
    »Die Maultiertreiber müssen mit anpacken«, sagte Gladys. »Wir werden sie vor den Stadttoren anhalten; sie sollen ihre Tiere draußen unterbringen, so gut sie können, und uns dann helfen, den Schutt aufzuräumen. Es hegen noch immer lebendige Menschen unter den Trümmern, die müssen wir zuerst herausholen und dann die Hauptstraße frei machen.«
    »Wir haben Hunderte von Obdachlosen und unendlich viele Verwundete«, seufzte der Gefängnisdirektor verzagt.
    »Der Tempel Lang Quai und der Buddhatempel in der Mitte der Stadt sind verschont geblieben«, erwiderte der Mandarin. »Der eine kann die Obdachlosen aufnehmen, in den anderen bringen wir die Verwundeten.«
    »Wir müssen die Lebensmittelvorräte zusammenfassen, eine Gemeinschaftsküche einrichten, und die Köche, die noch leben, sollen die Stadt mit Essen versorgen«, sagte Gladys.
    »Die Händler werden Nahrung und Kleidung für die Hungrigen und Obdachlosen geben«, fügte Lu Tschen hinzu.
    »Frauen müssen angestellt werden, um die Verwundeten zu pflegen«, fuhr Gladys fort. »Ich fürchte allerdings, daß noch viele sterben werden. Der Ausrufer soll herumgehen und alles bekanntgeben. Er könnte auch gleich sagen, daß jeder, der Verwandte auf dem Lande hat, dorthin gehen und vorerst bei ihnen bleiben soll.«
    »Ich werde dafür sorgen, daß die Treiber und meine Gefangenen die Hauptstraße vom Ost- bis zum Westtor aufräumen«, sagte der Gefängnisdirektor. »Wenn das nicht bald geschieht, stauen sich die Maultierzüge vor den Eingängen der Stadt.«
    Der Mandarin nickte, schien aber mit schweren Gedanken beschäftigt. »Ich habe noch weitere beunruhigende Nachrichten bekommen«, erklärte er. »Die Japaner haben, so wurde mir berichtet, Luan besetzt und nähern sich Tsechow. Von Tsechow werden sie mit der größten Wahrscheinlichkeit nach Yang Cheng weitermarschieren. Wie ich höre, keimen sie kein Erbarmen mit der Bevölkerung.«
    »Also haben wir immerhin noch einige Tage vor uns, bis sie kommen«, warf Gladys ein. »Wir dürfen vor allen Dingen keine Zeit mehr verlieren.«
    Bald darauf begannen die neuorganisierten Räumungskommandos mit der Arbeit. Maultiertreiber, Gefangene und die Einwohner von Yang Cheng griffen gemeinsam zu, um die Hauptstraße von Bombenschutt zu befreien. Platz für all diesen Abfall des Krieges gab es genug in den Ruinen. Die Verwundeten wurden zum Buddhistentempel getragen; dort war Gladys mit vielen Helferinnen am Werk, Wunden auszuwaschen, gebrochene Glieder behelfsmäßig zu schienen, Laken in Binden zu reißen, Sterbenden beizustehen, so gut es ging, und an die Verwandten der transportfähigen Verwundeten Boten zu schicken. Eine riesige Grube wurde vor dem Westtor in der Nähe eines alten Friedhofs ausgehoben und die Toten dort begraben. Chang hatte die Leitung der Gemeinschaftsküche übernommen; mit ein paar Köchen aus den benachbarten Herbergen sorgte er dafür, daß niemand zu hungern brauchte. Hundert flackernde Lampen brannten bis tief in die Nacht hinein innerhalb der dicken Mauern von Yang Cheng, während die Arbeit weiterging, und jeder Treiber griff mit zu, mochte er noch so müde sein von der langen Reise. Es herrschte ein Geist der Kameradschaft, wie ihn auch sonst die Einwohner bombardierter Städte oft erfahren haben.
    Die Sonne hob sich in rotgoldener Glorie über die Bergspitzen, die Luft war rein und kühl, außerhalb der Wälle krähten die Hähne und bellten die Hunde wie immer in der ersten Stunde des Tages. Aber innerhalb der Mauern war alles totenstill. Nur streunende Hunde schnüffelten im Schutt herum auf der Suche nach Abfällen;

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