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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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nirgends war ein Kinderlachen zu hören. Der Rauch, der an diesem Morgen langsam in den klaren Himmel hinaufstieg, war der Rauch schwelender Häuser. Die Trümmer qualmten noch immer, als fünf Tage später die siegreichen Truppen Nippons, über den leichten Khakiuniformen die Munitionskästen, Gewehre, Proviant und Waffenteile geschultert, die Bergstraße von Tsechow aus heranmarschierten und die verödete Stadt durch das Osttor betraten.

10. Kapitel

    Die Japaner fanden eine verlassene Stadt. Überall erzählte man von ihrer Grausamkeit, und Yang Cheng war nach dem schrecklichen Bombenangriff besonders empfänglich für Nachrichten über ihr unmenschliches Vorgehen. Die Bewohner flüchteten in die einsamen Dörfer und Berghöhlen, beladen mit ihren kleinen Kindern und ihrer Habe. Der Direktor des Gefängnisses ließ die Gefangenen in Ketten antreten und in ein Bergdorf abmarschieren. Auch der Mandarin mit seiner ganzen Familie und den Yamenmädchen begab sich zu einem nahen, in der Bergwildnis verborgenen Ort, und Gladys führte ihre kleine christliche Schar, etwa vierzig Menschen, nach Bei Chai Chuang, einem winzigen, ummauerten Dorf von acht Häusern, das zehn Kilometer entfernt seitlich der großen Maultierstraße nach Süden lag.
    Bei Chai Chuang lag wie ein Schwalbennest auf schrägem Dach am Abhang eines hohen Berges. Keine Straße führte dort hinauf, und in dem bergigen Gelände, das man durchqueren mußte, waren die Spuren leicht zu verwischen. Hier, in windgeschützten Tälern und Klüften, pflanzten die Bauern Hirse und Mais, Baumwolle und Leinsamen. Sie zogen Hühner und Schweine auf, Schafe und Kühe, und fingen in Fallen Rebhühner und Bergfasanen. Kein japanischer Soldat hat je Bei Chai Chuang entdeckt; er hätte es auch nicht überlebt, denn jeder Bauer war ein Partisane und hatte wenig Erbarmen mit diesen fremden Eindringlingen, die er als Räuber in seinem Vaterlande ansah. Darum vermied es in diesem hart geführten Krieg jeder japanische Soldat, sich von der Armee zu entfernen.
    Gladys hatte viele alte Freunde in dem Dorf. Hier war sie immer willkommen, und die Bauern bewiesen auch diesmal ihre Gastfreundschaft, obgleich in Gladys’ Gruppe viele Münder zu füttern waren. Mit Schrecken hörten die Dorfbewohner die Berichte von dem Bombenangriff. Gladys und die Ihren blieben über eine Woche hier. Als dann die Nachricht kam, daß die japanische Armee die Stadt passiert hatte und auf der Maultierstraße wieder in der Ferne verschwunden war, beschloß Gladys sofort, nach Yang Cheng zurückzukehren, um von ihrer Habe zu retten, was zu retten war. Sie hatte eine Blechbüchse mit dem Mietvertrag und einigen Pässen und Papieren im Garten vergraben. Da aber Bei Chai Chuang für sie alle sicherer war als Yang Cheng, ließ sie zunächst ihre Schutzbefohlenen zurück und ging allein.
    Sie brauchte Stunden bis zur Stadt, der sie sich vorsichtig näherte. Das Westtor war geschlossen. Sie umging die Mauer, kletterte um die schmale Felsnase herum, die auf der Yamenseite der Stadt steil zum Tal abfiel, und kam so zum Osttor. Die Häuser außerhalb des Walles waren von all ihren Bewohnern verlassen; eine geisterhafte Stille hing wie ein riesiges Spinnennetz über den Gassen. Es war spät am Nachmittag, und die Schatten waren schon lang, als sie endlich die Herberge »Zu den Acht Glückseligkeiten« wiedersah. Das Schild vor dem Hause knarrte im Wind; es hatte einen neuen Anstrich nötig. Sie ging durch die Räume; alles war noch so, wie sie es verlassen hatten. Die von der Bombe getroffene Ecke klaffte offen dem Himmel entgegen. Sie ergriff ein Stück Holz und begann, in einem Winkel des Hofes nach der Büchse zu graben. Fast war sie damit fertig, als sie eine Bewegung am Eingang des Hofes mehr fühlte als hörte. Erschrocken drehte sie sich um. Im Torweg stand der Wasserträger. Sie kannte ihn gut mit seinem blauen, schmutzigen Schurz und dem runden blauen Hut: ein alter Mann mit einem Ziegenbart und magerem, verschlagenem Gesicht. Sie mochte ihn nicht. Sie wußte, er war ein Dieb, ein böser alter Kerl. Ob er hiergeblieben war während der kurzen japanischen Besetzung? Sie hätte es ihm zugetraut; es war eine herrliche Gelegenheit zum Plündern.
    »Wann gehen Sie weg?« fragte er mit krächzender Stimme.
    »Warum sollte ich weggehen? Das ist mein Haus. Ich werde hier schlafen oder bei einem meiner Nachbarn.«
    »Hier außerhalb der Wälle? Da gibt es keine Nachbarn. Alle, die zurückgekommen sind, sind in

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