Eine unbegabte Frau
Wahrscheinlich war Gladys’ Erfolg auch so groß, weil sie anders als alle andern war. Einmal bekam ihre Mutter in England einen Brief von einem Chinesen aus Gladys’ Bekanntenkreis. Er lautete:
»Als Ihre unübertreffliche Tochter kam nach China, meine Frau sah sie zuerst, und dann ich sprach mit ihr und finde, daß sie ist so eine Missionarin, wie wir brauchen in China. Ihr machen nichts die Bosheit, Schwierigkeiten und Armut, sie das Evangelium predigt an all den Plätzen in dem Süden von Schansi. Die Fremden meist nicht nur kommen nach China, um das Evangelium zu predigen, und die meisten es sich machen sehr bequem, und darum nicht viele Leute in Yang Cheng glauben an Jesus Christus. Weil sehen die Leute, daß es nicht dasselbe ist, was sagt die Bibel.«
Gladys richtete ihr genügsames Leben nach dem, »was sagt die Bibel«. Sie wußte nicht — und niemand in Yang Cheng konnte es ahnen — , daß der Krieg sie alle in kurzer Zeit überrollen würde. Schon kamen die Japaner in der Mandschurei zur Macht, bald würden sie auf den uralten Heerstraßen der mongolischen Eroberer herandringen. Man hatte in Yang Cheng gehört, daß draußen in der Welt Streit entstanden war; in jeder chinesischen Provinz strebte irgendein ehrgeiziger Heerführer an die Macht. Gelegentlich marschierte eine Abteilung nordchinesischer Truppen durch die Stadt, doch kamen sie kaum mit den Einwohnern in Berührung. Es lohnte sich nicht, um ein Bergstädtchen wie Yang Cheng zu kämpfen, in Peking und in den Städten des Südens gab es feinere Seide und kostbarere Schätze. — Die Mönche vom Monte Cassino mögen dasselbe gedacht haben!
Die Überbringer der Neuigkeiten und des Klatsches, die Maultiertreiber, waren in politischen Fragen wie Kinder. Plötzlich aber raunte man in den Karawanen, die südwärts zogen, sich zu, daß man in Luan einen japanischen Angriff befürchte. Die Leute von Yang Cheng erfuhren tatsächlich jetzt erst, daß die Japaner in Nordschansi eingefallen waren. Man hörte von Schlachten, die im Norden geschlagen wurden — aber in Yang Cheng glaubte immer noch niemand daran, daß die Kämpfe sich bis in das hinterste Gebirge ziehen könnten. So war es auch an jenem Frühlingsmorgen 1938, als die kleinen silbernen Flugzeuge über die Berge herangeflogen kamen; jeder lief aus seinem Haus, um sie anzuschauen, denn viele hatten noch nie ein Flugzeug gesehen. Und die silbernen Vögel waren so hübsch, als sie aus dem sonnigen Himmel gerade auf die Stadt herniederstießen.
Gladys war nicht aus dem Hause getreten, weil sie eben mit dem Koch und vier Neugetauften ihre Andacht hielt. In einem der Zimmer des ersten Stocks knieten sie im gemeinsamen Gebet. Gladys hörte die Flieger erst in der letzten Minute, zugleich schien sich die Welt in ein einziges tobendes, schüttelndes, heulendes Chaos zu verwandeln, bis alles in Finsternis versank. Die Menschen von Yang Cheng hatten rufend und winkend in den Straßen gestanden, als die spitzen Metalldinger aus den Bäuchen der Flugzeuge fielen und in die Stadt hineinkrachten, die Rufe in Schreie der Qual und der Angst verwandelnd. Den tödlichen Regen aus hochgeschleuderten und niederprasselnden Trümmern durchschnitt das gleichmäßige Knattern der Maschinengewehrsalven. In geringer Höhe überflog das Geschwader die Stadt, schwenkte dann aufwärts und hinaus ins Tal und nochmals zurück — das Ziel war kaum zu verfehlen. Eine Bombe allerdings irrte etwas ab, heulte über die Wälle hinaus und traf die Dachecke der Herberge »Zu den Acht Glückseligkeiten«. Neun Menschen, die auf der Straße standen, waren sofort tot. Der Boden des Zimmers, in dem Gladys und die anderen beteten, neigte sich plötzlich nach einer Seite, und sie glitten und fielen nach unten mitten in einem prasselnden Durcheinander von Balken, Steinen, Staub und Mörtel und wurden im darunterliegenden Zimmer unter den Trümmern begraben.
Ob sie ohnmächtig geworden war, wußte Gladys nachher nicht genau; sie erinnerte sich später nur an undeutliche Stimmen und wie ihr langsam ihre Lage bewußt wurde: sie war mit dem Gesicht nach unten gestürzt und fühlte ein ungeheures Gewicht auf ihrem Rücken lasten. Die Schmerzen waren erträglich, aber das Atmen fiel ihr schwer. Jetzt hörte sie die Stimmen ganz in der Nähe: »Lobet den Herrn, lobet den Herrn!«, und es fuhr ihr durch den Sinn: »Das ist nicht der Moment, um den Herrn zu loben. Warum tun sie nicht lieber etwas, um mich herauszuholen? Warum holen sie mich
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