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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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schlechtem Wetter strömte ein Fluß rauschend durch das kieselige Bett; jetzt im Sommer wurde der ausgetrocknete Fluß als Landstraße benutzt, und der hochgelegene Saumpfad blieb auf diesem Abschnitt fast unbeachtet. Angenommen, dachte sie, ich treffe noch eine Gruppe von Japanern in der Schlucht, dann sitze ich in der Falle. Welchen Weg werden sie nehmen? Das Flußbett oder die Höhenstraße?
    Gladys fürchtete sich nicht. Sie wußte nur, daß sie Hilfe brauchte. »Du mußt mir helfen, Gott«, kam es halblaut über ihre Lippen. Sie schloß die Augen und begann, sich im Kreis zu drehen. Drängend und beschwörend betete sie: »Den Weg, den ich sehe, wenn ich die Augen jetzt wieder aufmache, gehe ich. Hörst Du mich, mein Gott? Den Weg, den ich sehe, wenn ich aufhöre zu kreiseln, den werde ich gehen.« Sie drehte sich so lange, bis ihr fast schwindelte. Dann blickte sie auf — direkt auf den schräg ansteigenden Pfad. Und Gladys nahm diesen Weg. Sie eilte ihn entlang, so schnell ihre Füße sie tragen wollten. Die breiten Schatten des Abends füllten die Schlucht. Kalt und unheimlich wurde die Welt.
    Sie war fast einen Kilometer gegangen, bis zu der Stelle, wo die Schlucht sich scharf nach links wendete, als sie plötzlich Geräusche hörte: das Geklapper von Rädern, Stiefeln und Hufen über felsigem Grund. Eine marschierende Armee. Sie warf sich flach auf die Erde und lugte über den Rand der Schlucht. Ein Gefühl der Befreiung durchflutete sie. Sie hatte den richtigen Weg gewählt! Dort unten marschierte die Kaiserlich-japanische Armee! Die vielfältigen Geräusche einer durchziehenden Kolonne drangen die steilen Wände empor — fünfhundert Männer wohl mochten es sein, mit Packeseln und maultierbespannter leichter Artillerie. Gladys ahnte, daß die Geschütze bald an den Toren von Yang Cheng blutige Arbeit leisten würden. Kälte kroch ihr bis ans Herz: was würde das Schicksal der Menschen sein, wenn die berstenden Tore fielen? Die Soldaten stapften weiter ihren Weg durch die Finsternis der Schlucht, und Gladys ließ sie lärmen, bis sie außer Sicht waren. Dann erst wagte sie sich aufzurichten. Sie lief vorwärts.
    Atemlos erreichte sie die Stelle, wo die Höhenstraße sich mit dem Flußbett vereinigte, und weiter ging es, den Berghang hinauf. Ihr Herz pumpte schwer, als sie den Kamm überschritt. Es war nun ganz dunkel geworden; hoch über den Gipfeln standen flimmernd die Sterne. Gladys fühlte die kalte Nachtluft an ihrem Gesicht vorbeistreifen. Sie brauchte keine Ruhepause, der Gedanke an ihre geglückte Flucht vor dem Feinde in der Schlucht gab ihr neue Kraft. So eilte sie den Grat entlang in der Richtung nach Bei Chai Chuang.
    Am nächsten Morgen erzählte sie den Leuten im Dorf, was sich in Yang Cheng ereignet hatte. Viele hatten Verwandte dort, um die sie nun in großer Sorge waren. Das Bedrückendste war, daß man nichts für sie tun konnte. Täglich sandten die Männer einen Erkundungstrupp in Richtung Yang Cheng, der endlich am fünften Tag mit guten Nachrichten zurückkam. Sie hatten die Tore offen gefunden, der Stadtausrufer war auf seinem Rundgang schon bei den Straßen außerhalb der Stadt angelangt, schlug seinen Gong und rief: »Alle Bürger haben zurückzukommen und ihre Höfe zu säubern!«
    Gladys’ kleine Gefolgschaft freute sich. Offenbar hatten die Japaner sich nach Tsechow zurückgezogen; nun konnten sie wieder nach Hause. Nur Gladys war weniger zuversichtlich, obgleich der Befehl: »Säubert eure Höfe«, so verheißungsvoll klang. Niemals hatte sie, in all den Jahren in Yang Cheng, diese Aufforderung gehört. Allerdings waren auch noch niemals vorher Japaner bei ihnen eingedrungen.
    Gladys bestand darauf, daß alle zunächst in ihrem Dorf blieben, bis sie selbst die Situation näher erforscht hätte. Zusammen mit einer Frau aus Bei Chai Chuang ging sie wieder über die Berge und hinunter zur Stadt. Während sie noch die Felsen durchkletterte, wurde es Gladys immer mehr zur Gewißheit, daß innerhalb der alten Mauern Entsetzliches auf sie wartete. Sie fühlte es in ihren Gliedern, an der Trockenheit ihres Mundes. Nichts bewegte sich, kein Geräusch war zu hören, kein aufsteigender Rauch zu sehen, keinerlei Leben zu spüren — alles schien wie unter einem tödlichen Druck erstickt.
    Das Westtor stand offen; sie gingen langsam unter dem Bogen hindurch. Sie fanden eine Stadt der Toten! Hohläugige Leichen überall in den Straßen und Gassen, die meisten niedergemetzelt, nur wenige

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