Eine unbegabte Frau
der Stadt hinter verschlossenen und verriegelten Toren. Da kommen Sie nicht hinein.«
»Was macht das? Ich kann auch hier schlafen.«
Gladys wurde ärgerlich. Was ging es ihn an, wohin sie ging und was sie tat. Sie kratzte die letzten Erdklumpen fort, hob ihre Blechbüchse aus dem Versteck, öffnete den Deckel und untersuchte den Inhalt. Waren die paar losen Papiere es überhaupt wert, ihretwegen hierher zurückzukommen und sich in Gefahr zu begeben? Wenn man den Krieg vor der Tür hatte, verlor alles seinen Wert.
»Die Japaner kommen zurück«, sagte der Wasserträger, glucksend wie eine alte Pfauenhenne.
Wortlos starrte Gladys ihn an.
»Wollen Sie mir einen Schreck einjagen?« sagte sie schließlich kalt. »Das wird Ihnen nicht gelingen.«
»Sie sind schon am Westtor«, antwortete er kichernd.
»Warum sind Sie denn nicht gegangen?« warf ihm Gladys entgegen.
»Mir werden sie nichts tun. Sie werden einen armen alten Mann nicht quälen. Und ich sage es Ihnen noch mal: sie sind am Westtor.«
»Unsinn«, begann Gladys, und als ob das Wort sie ausgelöst hätte, ertönte in diesem Augenblick eine gewaltige Explosion am Ende der Stadt. Sie kam so plötzlich und so erschreckend, daß Gladys ihre Büchse fallen ließ und davonrannte. Sie jagte aus dem Hof hinaus auf die Straße, im Weiterlaufen hörte sie eine Kette von Explosionen; sie lief noch schneller und hastete die Gasse hinauf zum Osttor. Es war verschlossen. Den großen Maultierpfad ostwärts zu gehen, hatte keinen Zweck; er führte nach Tsechow, das in Feindeshand war. Wieder mußte sie die Mauer umrunden und in südlicher Richtung sich davonmachen — im Südwesten lag Bei Chai Chuang. Gladys verlor keine Zeit; im Schatten des Walls erkämpfte sie sich ihren Weg über die Geröllhalde. Der Angriff am Westtor hielt mit unverminderter Stärke an. Es wurde schon dämmerig. Als sie den letzten Mauerpfeiler erreicht hatte, sah sie mit Schrecken, daß sie nicht weiter konnte.
Vor ihr wurde gekämpft. Unterhalb des Westtors, zum großen Teil von Felsen geschützt, lagen in hellen Khakiuniformen etwa fünfzig japanische Soldaten und beschossen die Mauern über dem Tor. Soldaten der chinesischen Nationalarmee erwiderten das Feuer vom oberen Rand des Walls. Dazwischen hörte man den scharfen Knall explodierender Handgranaten. Zwischen Gladys und den Kämpfenden lag der kleine Friedhof, in dem sie gerade erst die Bombenopfer beerdigt hatten. Schnell kroch Gladys zu den schützenden Gräbern und kauerte sich zwischen den Gedenksteinen nieder. Wie sonderbar, dachte sie, daß es gerade ein Friedhof sein muß, ein Platz für die Toten — der mir Schutz gewährt. Aber ich bin ja noch nicht tot, munterte sie sich auf. Irgendwie mußte sie diese Stunden überstehen und dann auf dem Maultierpfad weiterwandern in westlicher Richtung. Sie wollte nicht bis zur Dunkelheit warten, weil man dann vom Weg zu wenig sah. Außerdem vermutete sie, daß größere Truppenkontingente dieser Vorhut auf dem Fuße folgen würden. Vielleicht hatten sie gerade den Friedhof als Lager für die Nacht bestimmt? — Sicher war es leichter, durch diesen vorgeschobenen Posten hindurchzuschlüpfen, als der japanischen Hauptmacht zu entkommen. Die Truppe hier vor ihr war so stark mit ihrem Angriff auf das Westtor beschäftigt, daß die Soldaten wohl kaum scharf beobachteten, was hinter ihrem Rücken geschah. Dort bot sich vielleicht ein Ausweg. Im Rücken der Japaner konnte sie sich, wenn sie Glück hatte, behutsam durchschlagen. Sie mußte allerdings sehr dicht an die Kämpfenden heran, denn die steile Bergwand zu ihrer Rechten verlegte ihr auf dieser Seite den Weg.
Jenseits der Straße lag ein kleines grünes Weizenfeld, die Halme etwa sechzig Zentimeter hoch. Das mußte Gladys zuerst erreichen, dort war sie sicher. Sie stand auf, tat einen tiefen Atemzug und rannte vorwärts, an den Reihen der japanischen Soldaten vorbei. Sollte einer aus dem Gebüsch oder hinter einem Felsblock auftauchen — sie würde um ihr Leben laufen. An ihrem Ziel angelangt, konnte sie sich nicht mehr beherrschen. In wildem Lauf warf sie sich kopfüber in das Weizenfeld. Schnell kroch sie weiter, und gedeckt von den wogenden Halmen erreichte sie den felsenübersäten Bergabhang, über den sie, von Block zu Block in Deckung springend, ungesehen wieder auf die Hauptstraße kam. Sie führte abwärts zu einer engen, steinigen Felsschlucht, die langgestreckt die Berge durchschnitt. Beide Seiten stiegen steil an. Nur bei
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