Eine unbegabte Frau
Schultern, und so stolperten sie miteinander davon. Gladys ging weiter.
Zwei Männer hatten einen Ladeninhaber aus dem Schutt seines Hauses befreit und riefen Gladys herüber. Sie erkannte sogleich, daß er tot war.
»Legt den Körper außerhalb der Stadtmauer nieder. Dann kommt zurück und helft mir.«
Die Verwundeten lagen so dicht gedrängt, daß Gladys allein auf einer Strecke von zehn Metern zwölf Menschen zu verbinden hatte. Ein Eimer mit heißem Wasser war ihr gebracht worden, sie ließ einige Kristalle aus ihrer kostbaren Permanganat-Flasche hineinfallen. Diese Flüssigkeit diente ihr als primitives Desinfektionsmittel, mit dem sie die Wunden betupfte. Überall traf sie schreckgelähmte Menschen, die zum Teil durch den Luftdruck innere Verletzungen erlitten hatten — alle wurden von ihr zum Handeln überredet oder durch ihre Energie mitgerissen. Ihre durchdringende Stimme hallte zwischen den Ruinen:
»Ihr drei Männer klettert einmal in das Loch da drüben. Es ist bestimmt jemand drin. Hört ihr die Leute nicht rufen? — Und ihr anderen — durchsucht hier dies Gebäude, seht, ob jemand darin in Not ist.« Ihr Gesicht war verschmutzt von Staub, Tränen und Blut, ihr Mund nur noch eine feste, fast fanatisch wirkende Linie, ihre blaue Jacke blutbefleckt — so arbeitete sie unentwegt weiter, verband und schiente und trug ihren Eimer mit sich, um die Wunden auszuwaschen. Trotz ihrer eisernen Selbstbeherrschung mußte sie doch einigemal aufschluchzen, wenn sie ein verwundetes, totes oder verstümmeltes Kind entdeckte. Am späten Nachmittag, als sie endlich einen Augenblick innehielt, mußte sie feststellen: sie hatte nicht mehr als drei Viertel der Hauptstraße versorgen können. Auf den Stufen des Yamen saß ein alter Mann, den Kopf in die Hände gestützt. Er war mit Staub bedeckt, schien aber sonst unverletzt. Als Gladys über den Schutt kletterte, hob er den Kopf und sah sie mit stumpfen Augen an.
»Du lebst ja noch«, krächzte er, »also lebt dein Gott wohl auch noch?«
»Ihn kann niemand töten, er ist unsterblich«, entgegnete sie etwas gereizt. »Aber warum sitzen Sie hier herum, alter Mann, wenn es so viel zu tun gibt!«
»Ich habe die ganze Zeit mit angepackt«, gab er müde zurück. »Da drüben sind sie alle an der Arbeit.«
Gladys wandte den Blick in die Richtung, die er zeigte. An einer Hausecke unter zerborstenen Balken sah sie ihren alten Freund, den Gefängnisdirektor, stehen und ging zu ihm hinüber. Er war erschöpft und schmutzig. »Ai-weh-deh?« sagte er matt. »Ich dachte mir gleich, wenn Sie nicht tot sind, dann stecken Sie sicher irgendwo mitten darin.« Er wischte sich mit dem Jackenärmel über die Stirn, und eine breite helle Spur blieb zurück in seinem geschwärzten Gesicht.
»Sie haben auch Leute gefunden, die zu helfen versuchen?« fragte Gladys.
»Alle Gefangenen«, bejahte der Direktor. »Sie machen ihre Sache ausgezeichnet.«
Während er sprach, erschien Feng, der buddhistische Priester; er trug aus einem zerstörten Haus einen Verwundeten heraus und lächelte Gladys zu, als er mit seiner Last auf dem Rücken an ihr vorüberging.
»Wir legen die Verwundeten in den Yamen«, erklärte ihr der Gouverneur niedergeschlagen. »Aber es sind so viele. Wie lange müssen wir noch so weitermachen?«
»Bis alles getan ist«, warf Gladys ungeduldig ein. »Aber wir sollten die Arbeit besser organisieren. Die Verwundeten müssen unter ein Dach kommen, die Toten begraben und die Stadt aufgeräumt werden. Wo ist der Mandarin?«
»Im Yamen. Er hilft mit.«
»Wir wollen mit ihm sprechen.«
Sie suchten sich ihren Weg durch die Trümmer. Der Mandarin, noch im scharlachroten Gewand, beriet sich gerade mit einer Gruppe ängstlich aussehender Beamter, doch als er Gladys sah, entließ er sie und setzte sich, um sie anzuhören. Er war mit allem einverstanden, was sie vorschlug; eine halbe Stunde später war ein Hilfskomitee aufgestellt und an der Arbeit. Es bestand aus dem Mandarin, dem Gefängnisgouverneur, Gladys und Lu-Tschen, einem kleinen Kaufmann mit schlauem, flinkem Blick. Überkrustet mit Staub, Schweiß und Blut saßen sie um einen Tisch und entwarfen einen Plan, wie ihrer Stadt zu helfen sei. Es fehlte ihnen jegliche Erfahrung, denn keine Katastrophe in der Geschichte Yang Chengs war mit dieser zu vergleichen. Vor vielen Jahrhunderten hatten die Bewohner hier ihre Stadtwälle errichtet, klug und solide waren sie gebaut. Große viereckige Steine, sorgfältig
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