Eine unbegabte Frau
zurückgekehrt, als sie sich vor die andere große Frage gestellt sah: in zweien der Dörfer, die sie besucht hatte, fand sie japanische Truppen einquartiert. Sie hatte ihrer Anwesenheit wenig Beachtung geschenkt und sich sogleich ihrer gewohnten Arbeit zugewendet. Nach ihrer Rückkehr erzählte sie Linnan davon. Er war sehr interessiert und fragte nach allem, was sie über die Zahl der Truppen und ihre Waffen sowie über die Art ihrer Unterbringung wußte. Als sie bald darauf wieder das von den Japanern besetzte Gebiet bereiste, merkte sie sich die Regimentsnummern und Art der Bewaffnung sorgfältiger, weil sie wußte, daß er Wert auf ihren Bericht legte. Sie hatte ihr Wahl-Vaterland schon lange mit heißem Herzen geliebt; in diesen Monaten ihrer Freundschaft nun war sie ein ebenso glühender Patriot geworden wie er. Das Bild eines neuen, edleren China, das sich aus den Trümmern des Krieges und über dem Abgrund einer korrupten, unfähigen, erschöpften Gesellschaftsordnung erheben sollte, regte sie beide zu unerschöpflichen Gesprächen an.
Das nächste Ziel mußte sein: die Niederlage der Japaner zu beschleunigen und die Bildung einer neuen Gesellschaft auf christlicher Grundlage zu fördern, die die Armen und Beraubten in feste Rechte einsetzte. Was diesem doppelten Ziel diente, war allein wichtig. Wenn sie für die nationalen Truppen spionieren und Informationen von militärischem Wert unbeobachtet und ungehindert durch die japanischen Linien bringen konnte, dann wollte sie es tun. Wieviel bei dieser Tätigkeit ihrem Verlangen zuzuschreiben war, Linnan gefällig zu sein, und wieviel ihrem Wunsch, China zu dienen: sie versuchte nicht, diesen Zwiespalt zu entwirren. Sie wußte, daß sie sich nicht nur an einen Glauben halten konnte, sondern von nun ab auch an ein Ziel.
12. Kapitel
Als David Davis nach Tsechow zurückkehrte, fiel ihm und seiner Frau Jean auf, daß Gladys sich verändert hatte. Obgleich sie Linnan kannten und gern hatten und seine häufigen Besuche in der Mission begrüßten, schrieben sie diese Zusammenkünfte, die Fröhlichkeit und das Gelächter der beiden nichts anderem als einer Freundschaft zu. Allerdings glaubte David Davis aus Gladys’ Heiterkeit einen Anflug von Hysterie herauszuhören. Sie wird überarbeitet sein, dachte er.
»Sie brauchen dringend etwas Ruhe, eine Erholungskur«, nahm er sie ernst beiseite. »Und ich weiß gerade eine ausgezeichnete Gelegenheit dafür. In Lingchuang halten die Christen in der nächsten Woche eine kleine Konferenz ab. Wollen Sie nicht hingehen und ihnen helfen? Der Ort ist auch, soviel ich weiß, vom Krieg verschont geblieben. Es ist eine sehr reizvolle kleine Stadt wie Yang Cheng, und Sie werden sich dort wohlfühlen.«
Gladys lächelte vor sich hin; sie fand, daß sie das in letzter Zeit öfter tat. Mit dem Vorschlag war sie gern einverstanden. Es war ihr inzwischen klargeworden, daß sie Linnan liebte. Diese Liebe war vor allem eine Vertrautheit im Geistig-Seelischen und stärker als jede körperliche Begegnung. Niemals vorher war sie verliebt gewesen, und niemals vorher hatte sie geglaubt, es je zu erleben. Zehn Jahre lang hatte sie unermüdlich für ihren Gott gearbeitet, hatte die einfache Nahrung der Bauern gegessen und das halte Wasser der Ströme getrunken; sie hatte auf den harten steinernen K’angs geschlafen und ihren mageren Körper zu einem harten, langen Tagwerk gezwungen. Dieses neue seelische und körperliche Hochgefühl war vielleicht nichts als eine Verzauberung, die vorüberging. Sie nahm diese Ferientage des Herzens als von Gott geschenkt hin. Wohlgemut brach sie nach Lingchuang auf, begleitet von der Bibelfrau Chung Rumai, Thimothy und Sualan. Sie packten ihre Sachen auf einen zweirädrigen, maultiergezogenen Karren — die Wege bei Tsechow machten den Gebrauch dieser Vehikel möglich — und trieben das Tier über die Ebene. Spät am Nachmittag — die Stadt war noch drei bis vier Kilometer entfernt, und die Sonne glitt schon hinter den Gebirgskamm — ließ ein allzu bekanntes Geräusch sie zusammenfahren, das ihnen schon oft Tod und Zerstörung angekündigt hatte. Sie sahen die silbernen Vögel vom heißen verschleierten Himmel herabdonnern, hörten das Heulen der Bomben und spürten die dumpfen, erderschütternden Stöße. Voll Entsetzen beobachteten sie den Flug der Maschinen. Die Japaner bombardierten Lingchuang. Der Krieg rückte wieder näher. Keine Rede mehr von Ferien und Erholung!
Ungefähr fünfzehn Minuten
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