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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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brauchten die Geschwader, um ihrer Last ledig zu werden; dann flogen sie ab. Gladys faßte den Kopf ihres Maultiers und trieb es vorwärts. Es war dunkel, als sie die Stadt erreichten. Der Schaden war geringer, als sie erwartet hatten. Die Einwohner von Lingchuang hatten unterdessen durch Erfahrung anderer gelernt. Sie Hefen nicht mehr auf die Straße, wenn Bombenflugzeuge über der Stadt kreisten, sondern krochen in ihre Keller oder bargen sich in den Wölbungen der Stadtmauer und beteten inständig zu den Vorfahren. Die christliche Mission war unbeschädigt geblieben, nur einige Scheiben waren eingedrückt, und dem Koch war der Teig für das Abendbrot zum Fenster hinausgeweht worden; er war sehr entrüstet und war nicht davon abzubringen, daß der Teig ihm gestohlen worden sei.
    Trotz des Bombardements fanden sich die Leute aus den Dörfern zur Konferenz ein, und am nächsten Vormittag begann die Bibelarbeit und Unterweisung. Jeden Tag etwa um die gleiche Stunde erschienen japanische Flugzeuge und ließen ihre Bomben fallen, so daß Gladys ihre Religionsstunden wieder und wieder unterbrechen mußte, um Tote zu begraben und die Überlebenden zu trösten. Aber die Konferenz nahm trotzdem ihren Fortgang; die Mission blieb weiterhin unbeschädigt. Am letzten Abend — es war schon spät — verbreitete sich wie ein Lauffeuer das Gerücht, eine fremde Armee sei im Anmarsch auf die Stadt. Japaner? Partisanen? Kommunisten? Niemand wußte es. Gladys vermutete, daß es Japaner wären, denn es war anzunehmen, daß dieses tägliche Bombardement das Erscheinen der Truppe vorbereitet hatte. Die Konferenz war ohnehin zu Ende, man saß nur noch ein wenig beisammen, ehe man zur Ruhe ging. Es war ein großer Unterschied, ob man in einer von Japanern besetzten Stadt lebte oder in einer Stadt, die erst vom Feind eingenommen werden sollte. Unter solchen Umständen war es besser, Zuflucht in den Bergen zu suchen. Die Dorfältesten, die in größerer Zahl an der Konferenz teilgenommen hatten, beschlossen, in der ersten Dämmerung des nächsten Tages auseinanderzugehen. Alle legten sich, ihr Gepäck griffbereit zur Hand, für ein paar kurze Stunden nieder, aber Gladys fand keine Ruhe. Sie wälzte sich unruhig auf ihrem Lager. Sie mußten unbedingt die Stadt beim ersten Tagesgrauen verlassen, das war klar. Auf keinen Fall durfte sich wiederholen, was sie in Shin-Schui erlebt hatten. Sie mußten so früh wie möglich hinaus. Ihre Befürchtungen bedrückten sie so sehr, daß sie — unfähig, ihre innere Unruhe noch länger zu ertragen — aufstand und die Bibelfrau, Thimothy und Sualan weckte.
    »Wir verlassen Lingchuang«, sagte sie. »Wir gehen sofort!« Die anderen erhoben keinen Einspruch: sie hatten sich allmählich daran gewöhnt, ihren plötzlichen Launen und Eingebungen ohne langes Fragen Folge zu leisten.
    Ein chinesischer Evangelist aus Tsechow, der mit Frau und Kindern zu der Konferenz erschienen war, erwachte von dem Geflüster und sah mit ängstlich fragenden Augen auf.
    »Sie werden nicht hinauskommen; die Stadttore sind noch geschlossen und werden vor Sonnenaufgang nicht geöffnet.«
    »Dann sind wir die ersten, die draußen sind«, sagte sie fest. »Macht schnell, Sualan und Thimothy, packt eure Sachen!«
    Zwei andere Männer, Bauern aus nahegelegenen Dörfern, die auf dem Fußboden schliefen, wurden durch die Unruhe ebenfalls gestört. Sie setzten sich auf und murmelten verschlafen: »Wir kommen auch mit.«
    Gladys’ Entschlossenheit beeinflußte offenbar auch den Evangelisten. Er stieß seine Frau an, bis auch sie erwachte, und seine beiden schlaftrunkenen Kinder richteten sich ebenfalls auf und sahen Gladys mit vorwurfsvollen Augen an.
    »Vielleicht ist es nur falscher Alarm«, sagte sie, »aber ich habe das Gefühl, ich müßte die erste sein, die durch das Tor geht, sobald es geöffnet wird.«
    »Es sind noch mindestens drei Stunden bis zum Sonnenaufgang«, protestierte der Evangelist.
    Gladys holte tief Atem. »Ich kann es nicht erklären, aber wir gehen, um als erste draußen zu sein«, entgegnete sie bestimmt. »Lassen Sie sich bitte nicht stören, wenn Sie sich uns nicht anschließen wollen.«
    Als die kleine Gruppe aus dem Missionshaus auf die dunklen, nachtkühlen Straßen hinaustrat, war sie noch um einige Personen angewachsen: ein junger chinesischer Arzt mit seiner alten Mutter, seiner Frau und seinem kleinen Baby hatten sich angeschlossen. Sie hatten Verwandte in Lingchuang besucht, und da sie Christen

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