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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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waren, hatten sie in der Mission Schutz gesucht, als das Bombardement begann. Die Straßen waren leer. Unheimlich warf das Echo Thimothys Husten zurück. Sie kamen zu dem schweren Tor mit dem grün-geziegelten Pagodendach und machten in seinem schwarzen Schatten halt. Die Bauern hatten recht: das Tor war geschlossen. Gegen die massiven Holzbohlen gelehnt, kauerten sie alle am Straßenrand nieder. Es war kalt und ruhig. Zwischen den Dächern funkelten hell die Sterne, in der Stadt war kein einziges Licht zu sehen. Die Kinder schliefen schnell wieder ein, auch die Erwachsenen fielen in einen leichten Schlaf. Nur Gladys konnte keine Ruhe finden. Sie streckte die Hand aus und berührte die rauhe Fläche des Tores. Es war aus hartem Holz. Die Gründer der Stadt hatten es so fest gebaut, damit es jeder Attacke — so schwer sie sich ihre Phantasie nur auszumalen vermochte — standhalten konnte. Warum nur hatte sie plötzlich dieses dringende Bedürfnis überfallen, die Stadt zu verlassen? Wäre es nicht doch besser gewesen, wenn sie alle ruhig weitergeschlafen hätten? Schließlich wußte man ja nicht einmal genau, ob feindliche Truppen im Anmarsch waren; vom Mandarin war bis jetzt noch keine offizielle Bestätigung gekommen; niemand war aufgefordert worden, die Stadt zu verlassen. Diese hastige Flucht entsprang ihrer eigenen Eingebung. Nun gut, sie mußte sich also damit abfinden.
    Die Wärme ihrer wattierten Jacke und die dunkle, beruhigende Nähe des schweren Holztores in ihrem Rücken hatten Gladys wohl in einen kurzen Schlaf gelullt. Das Krähen der Hähne weckte sie, die den heraufkommenden Tag ankündigten. Sie öffnete die Augen. Es wurde schon hell, der Torwächter machte sich bereits mit den gewaltigen Schlössern und Riegeln zu schaffen und brummte dabei ärgerlich über das menschliche Hindernis, das ihm im Wege war. Schon füllte sich die Straße hinter ihnen mit einer unruhigen Menge, die die Stadt nach Öffnung der Tore eiligst verlassen wollte. Offenbar war Gladys nicht die einzige gewesen, die in dieser Nacht von dunklen Ahnungen getrieben wurde. Nun endlich schwangen die schweren Flügel des Tores zurück, und ein befriedigtes Gemurmel erhob sich in der wartenden Menge, als nun die Straße zu den Bergen offen vor ihnen lag. Die Kinder lachten, am Abend hatte noch keins von ihnen geahnt, daß es so viel Aufregung geben würde. Vier Kilometer lang zog sich die Straße durch flaches Land dahin, zu beiden Seiten von Weizenfeldern flankiert; dann schwenkte sie in steiler Kurve hinauf in den Schutz der Gipfel.
    Gladys fühlte sich wunderbar erleichtert, als sie mit Thimothy und Sualan dahinmarschierte. Ein lockerer, aber ununterbrochener Strom von Flüchtenden bewegte sich aus dem Stadttor ins Freie, und die Sonne streckte ihre ersten Strahlenfächer über den schartigen Grat des Gebirges. Sie waren etwa einen Kilometer wacker marschiert, als sie sahen, daß hinter ihnen der Flüchtlingsstrom nach beiden Seiten zurückwich. Einen entsetzlichen Augenblick lang glaubte Gladys, der Feind habe sie schon abgeschnitten, dann aber erkannte sie, daß die aufwärts galoppierenden Reiter chinesische Kavallerie waren, der Stolz der Nationalarmee. Es war ein prachtvolles Bild, die ganze Schwadron in grauen Uniformen und Schirmmützen, mit klappernden Steigbügeln, quietschendem Leder und hüpfenden Schwertern. Es war ein Anblick, der das Blut schneller fließen machte! Sie ritten in Schwadronformation, etwa zwanzig Reiter in einer Gruppe. Die Kinder jubelten, als sie inmitten einer Staubwolke an ihnen vorbeigaloppierten und die dröhnenden Hufe die Erde erzittern ließen. Gladys wunderte sich nur etwas über den grimmigen und entschlossenen Gesichtsausdruck der Reiter. Offenbar hatten sie einen Auftrag von großer Wichtigkeit auszuführen. Dann plötzlich wußte sie es! Den Lärm der schlagenden Hufe auf der harten Erde übertönte ein schriller, beharrlicher Ton aus der Luft: Gladys kannte ihn zu gut. Im nächsten Moment ließ der hochaufheulende hysterische Ton der herunterstoßenden Flugzeuge jeden Nerv in tödlicher Angst erbeben, und für den Bruchteil einer Sekunde versagten Gladys’ Muskeln den Dienst. Dann aber sammelte sie alle Kraft und rief mit sich überschlagender Stimme den Kindern zu:
    »In die Felder! Rennt, rennt! In die Felder! Werft euch auf die Erde!« Sie stieß und puffte Thimothy und Sualan über den niedrigen Steinwall, der die Straße einfaßte, und trieb sie außer sich vor Angst wie Vieh vor

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