Eine unbegabte Frau
flüchtig, ob auch alle ihr Bettzeug aufgerollt bei sich trugen und ihre Eßstäbchen und Schüsseln nicht vergessen hatten. Vom Missionstor aus winkte sie ihnen nach — der langen, beweglichen Schlange singender, lärmender Kinder, die über die Ebene zog, den Bergen und der Sicherheit der Stadt Sian zu.
Am Abend hielt Gladys eine kurze Gebetsstunde in der Missionskapelle ab. Die Andacht war früh beendet, die Zuhörer zerstreuten sich, nur ein junger Soldat — zu den Gottesdiensten kamen häufig Soldaten — schien noch zu zögern; er blieb im Türrahmen stehen und spielte mit seiner Mütze. Gladys erkannte sein junges, sympathisches Gesicht — er arbeitete im Stab des Generals.
»Sie haben es heute abend nicht eilig«, sagte sie lachend zu ihm, während sie an die Tür trat, um ihn hinauszulassen und die Kapelle zu schließen.
»Ich mußte warten, bis die anderen gegangen waren«, sagte er geheimnisvoll. »Ich bringe eine Botschaft vom General.« Er zog einen Briefumschlag aus der Brusttasche und übergab ihn Gladys. Sie runzelte die Stirn, riß den Brief auf und durchflog die Zeilen auf dem einfachen weißen Papier. Schreiber war der Adjutant im Namen des Generals.
»Die chinesischen Streitkräfte von Tsechow sind im Begriff, sich zurückzuziehen. Der General schlägt Ihnen vor, sich der Armee anzuschließen, die Sie an einen sicheren Ort geleiten wird. Wenn Sie diesem Ordonnanzoffizier folgen, wird er Ihnen ein Pferd zur Verfügung stellen und Sie zu einer Besprechung mit dem General führen.«
Gladys’ Gesichtsausdruck wurde noch strenger. Irgendwie ärgerte sie dieser Brief. War es nicht anmaßend vom General, anzunehmen, daß sie sich beim ersten Auftauchen der Gefahr mit einem Kopfsprung in die Sicherheit retten würde? Wie oft war sie während der vergangenen Jahre in Gefahr gewesen! Obgleich Davis von der Reise zurück war und offiziell wieder die Führung der Mission übernommen hatte, fühlte sie, daß ihre Pflichten in Tsechow noch nicht erfüllt seien. Sie ließ sich von dem jungen Offizier einen Bleistift geben und kritzelte auf die Rückseite des Briefes: »Chi Tao Tu Pu, Twai — Christen ziehen sich niemals zurück!« Sie wußte, daß dies eine recht ungewöhnliche Antwort war, mit der sie aber ihren Ärger ein wenig abreagierte.
»Bringen Sie das Ihrem General«, sagte sie. Er zögerte, grüßte dann, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand mit großen Schritten in der Dunkelheit.
Gladys lag auf ihrem Bett und dachte an den Brief. Also die Japaner kamen! Nun, sie hatte schon öfter unter ihrer Besatzung leben müssen, warum sollte sie ihr diesmal aus weichen? Es gab noch so viel — so unendlich viel zu tun! Angekleidet — denn in diesen Tagen der Alarme und Entwarnungen wußte man nie, was die Nacht bringen mochte — fiel sie fest in Schlaf.
Am nächsten Nachmittag erschien der Ordonnanzoffizier wieder, einen bekümmerten Ausdruck in dem blassen schmalen Gesicht. Gladys hatte soeben ihren Hirsebrei verzehrt und blickte, die leere Eßschale noch in der Hand, erstaunt den jungen Soldaten an.
»Warum kommen Sie wieder?« fragte sie.
Er war rot vor Erregung und stotterte fast: »Der General fordert Sie dringend auf, sich sofort in Sicherheit zu bringen. Er hat mich mit dieser Botschaft nochmals hergesandt. Die Armee lagert fünfundzwanzig Kilometer von hier in der Ebene. Ich bitte Sie, Ai-weh-deh, begleiten Sie mich.«
Seine offensichtliche Sorge verursachte ihr ein Gefühl des Unbehagens. Sie stellte ihre Schale auf den Tisch, legte die Eßstäbchen darüber und stand auf. »Ich danke Ihnen, daß Sie noch einmal gekommen sind, um mir das mitzuteilen«, antwortete sie ruhig. »Aber wie ich Ihnen schon sagte, werde ich mich nicht der Armee anschließen, ganz gleich, was geschieht. Meine Pflicht hält mich hier fest.« Sie ließ ihn stehen und ging aus dem Zimmer an ihre Arbeit.
Die chinesischen Schwerverwundeten wurden soeben auf Karren geladen, um aus der Stadt gefahren zu werden; diejenigen, die gehen konnten, humpelten hinterdrein. Für Verwundete hatten die Japaner keine Zeit, weder für ihre eigenen noch für fremde. Ihre eigenen Toten sammelten sie in großen Haufen und verbrannten sie; in Schansi war man überzeugt, daß sie selbst ihre Schwerverwundeten mit einer wohlgezielten Kugel schnell in den Schintohimmel beförderten, ehe sie sie schleunigst verbrannten. Eines nur war den Japanern wichtig: eine kleine Aschenurne für den heiligen Schrein ins Heimatland zu senden.
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