Eine unbegabte Frau
ihre Lampe; die Schatten tanzten über dem kleinen Fetzen Papier. Überschrift: »Hundert Chinadollar Belohnung!« Dann hieß es weiter: »Hundert Chinadollar Belohnung zahlt die japanische Armee für Informationen, die zur Festnahme, tot oder lebendig, der untenstehenden drei Personen führen.«
Gladys’ Augen kniffen sich zusammen, um in dem ungewissen Licht die Namen zu entziffern. Der erste war der Mandarin von Tsechow; der zweite der eines bekannten Geschäftsmannes, der für seine Zusammenarbeit mit den Nationalisten bekannt war. Die dritte Zeile lautete einfach: »Die kleine Frau, bekannt als Ai-weh-deh!«
14. Kapitel
Ihr erster Gedanke war, die ganze Sache als völlig unglaubhaft abzutun. Hundert Chinadollar! Ein kleines Vermögen! »Sie müssen den Verstand verloren haben!« rief sie aus. »Für mich hundert Dollar zu bieten!«
Die dunkle Gestalt im Türrahmen bewegte sich nicht. »Sie müssen die Stadt am frühen Morgen verlassen, Ai-weh-deh. Ich gehe jetzt. Sie müssen fort, sobald die Sonne aufgeht.«
Gladys wandte sich wieder zu ihm um, von Unschlüssigkeit hin und her gerissen und nicht in der Lage, dieses störende Summen der Angst in ihrem Gehirn zum Schweigen zu bringen.
»Ich danke Ihnen für die Nachricht«, sagte sie langsam. »Dann werde ich also wählen müssen. Aber ich weiß noch nicht, was ich tue.«
Er spürte die leichte Unsicherheit in ihrer Stimme. »Ich wünsche Ihnen alles Gute, Ai-weh-deh«, sagte er ernst. Dann war er verschwunden, und sie sah ihn niemals wieder.
Gladys schloß die Tür langsam hinter ihm, trat an den Tisch und betrachtete den kleinen Zettel noch einmal genau. Hundert Chinadollar! Für die meisten Bewohner von Tsechow eine ungeheure Summe. Ohne Bitterkeit sagte sie sich, daß es wohl sehr viele geben würde, die sie auch für die Hälfte gern verraten hätten. Mit David Davis die schwierige Frage zu besprechen, kam ihr gar nicht erst in den Sinn; seit Jahren war sie gewohnt, ihre Entscheidungen selbst zu treffen. Sie hatte David jetzt monatelang nicht gesehen. Dazu kam, daß sie, auf deren Kopf jetzt ein hoher Preis stand, ihn nicht in ihre Angelegenheiten verwickeln wollte. Die Luft im Zimmer schien ihr drückend — sie ging und öffnete ein Fenster. Dunkelheit hing draußen, dick und undurchdringlich; es war sehr still. »Ich kann doch nicht vor dem Feind davonlaufen!« rief sie sich selbst zu — aber eine winzige Kurzwellenstation in ihrem Kopf begann dagegen kleine, hastige Worte zu senden: »Lauf! Lauf! Lauf um dein Leben!«
Die Japaner mußten von ihrer Informationsarbeit zugunsten der Nationalisten erfahren haben. Irgend jemand hatte sie verraten. Der Feind würde nicht zögern, die Rechnung zu begleichen, und daß sie eine Frau war, spielte keine Rolle. Und doch zögerte sie noch immer. So vieles in ihr wehrte sich dagegen, ihren Posten vor dem Feinde zu räumen —: ihre Lebensgewohnheiten, ihr Herz und ihr Geist. Und doch: wieviel Furchtbares hatte sie in den letzten Jahren gesehen! Die Japaner würden keinerlei Hemmungen haben, mit einer christlichen Spionin genauso zu verfahren. In ihrem Kopf wiederholte die klare, mechanische Stimme: »Wenn du bleibst, wirst du sterben. Du kennst ein Gebet — ein chinesisches Gebet — erinnere dich.«
Ja, sie kannte das Gebet, viele Male schon hatte sie es sich vorgesprochen: »Wenn ich sterben muß, laß mich ohne Furcht sterben, aber gib, o Gott, meinem Tod einen Sinn.« Die flüsternde Stimme gab keine Ruhe: »Siehst du einen Sinn darin, demütig wie ein Schaf auf das Messer zu warten, zu warten, bis die Japaner kommen und dich holen? Du bist Chinesin geworden, auch deinen Papieren nach. Du bist weit fort von deinem Geburtsland. Einen Schutz gibt es nicht mehr. Gott will nicht, daß du bleibst.«
Was sollte sie tun? Ein plötzliches Verlangen ließ sie nach ihrer Bibel greifen, sie lag auf dem Tisch neben dem Zettel. Sie schlug sie rasch auf und beugte sich vor, um aufs Geratewohl eine Zeile der chinesischen Schriftzeichen zu lesen. Diese Worte waren ihr noch nie vorher aufgefallen, und nun las sie sie laut in wachsender Ehrfurcht.
»Fliehe, fliehe in die Berge! Wohne an den tief verborgenen Stätten, denn der König von Babylon hat einen Plan wider dich gefaßt!«
»Der König von Babylon hat einen Plan wider dich gefaßt!« wiederholte sie laut in tiefem Staunen. Wenn sie wirklich auf ein Zeichen wartete — war es nicht dies? »Fliehe, fliehe!« Ja, nun wußte sie, daß sie sich beim ersten
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