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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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Sie rissen die Türen aus den Häusern und die Balustraden von den Balkons, um ihre Scheiterhäufen zu nähren; diese ungemein praktische Behandlung der Leichen mußte auf die Chinesen in höchstem Maße abstoßend wirken, die doch den Toten höchste Verehrung darbrachten. In China schrieb man jedem Toten drei Seelen zu: die eine wohnte in der Ahnentafel, eine im Grab, und die dritte wanderte hinaus in das Unbekannte. Mehr denn je waren die Chinesen nun überzeugt, daß sie gegen Barbaren kämpften.
    Vom Morgen bis zum Abend dauerte die Evakuierung der Stadt Tsechow. Zu lange hatte die chinesische Verteidigung die Japaner aufgehalten, als daß von ihnen noch Gnade denjenigen gegenüber erwartet werden konnte, die ihnen verdächtig erschienen oder nicht angenehm waren. Am Abend war alles Leben in den Straßen erstorben. Gladys hatte nicht einmal Zeit gefunden, die Botschaft des Generals mit Davis zu besprechen. Sie wußte, daß er die Mission nur unter Zwang verlassen würde. Auch er hatte schon unter japanischer Besatzung gearbeitet und würde es wieder tun.
    Nur während ihrer kurzen Mittagspause, als sie eilig eine Schale mit Teigschnüren und Gemüse hinunterschlangen, konnten sie ein paar Worte über die Lage der Mission wechseln, aber für eine längere Besprechung fehlte die Zeit. Ihr Gelände war mit Flüchtlingen vollgestopft, es mußten etwa tausend Menschen sein, die sich innerhalb des Missionsgeländes zusammendrängten, und David Davis versuchte, eine gewisse Lagerordnung einzuführen.
    Tagelang hatten das Knattern von Handfeuerwaffen und Maschinengewehren und der dumpfe Donner der Artillerie das Wachen und Schlafen begleitet. Plötzlich an diesem Abend hörte es auf, Stille trat ein.
    Es war schon spät, viele schliefen; aber diese Stille war auf eine beklemmende Weise bedeutungsvoll, beängstigend. Gladys öffnete ihr Fenster — die Fenster der Mission waren aus Glas, während sie in Yang Cheng nur mit Papier überzogen waren — und sah hinaus in den Hof. Die Dunkelheit selbst schien erstickend, voller Drohung. Gladys ärgerte sich über ihre eigene furchtsame Unruhe —: »Warum hast du Angst vor der Stille?« fragte sie sich selbst. »Wahrscheinlich sind es wirklich die Japaner. Sie werden kommen; du weißt es schon lange. Nun also? Du hast schon früher mit ihnen leben müssen.« Aber innerlich spürte sie genau, daß sie Ahnungen zu übertönen versuchte, jenen sicheren Instinkt, der ihr schon oftmals geholfen hatte. Es war dieses Ahnungsvermögen, das sie so unsicher machte, so nervös wie ein Wild, das nächtlich an der Wasserstelle trinkt und den Tiger spürt. Sie legte sich wieder auf das Bett, in den Kleidern wie immer, und schloß die Augen. Ermüdet von der Krankenpflege und den organisatorischen Arbeiten des Tages ließ sie sich vom Schlaf übermannen. Erst als sie den Kies an ihr Fenster prasseln hörte, fuhr sie auf.
    Sie rappelte sich aus der Benommenheit des Schlafes hoch und ging zur Tür. Der Docht des Rizinusöllämpchens brannte noch auf dem Tisch und streute eine kleine Helligkeit in den Raum. »Wer ist da?« rief sie mit scharfer Stimme. Die Antwort konnte sie nicht verstehen, erkannte aber die Stimme des Ordonnanzoffiziers. Sie öffnete die Tür: draußen als dunkler Schatten gegen den helleren Himmel stand der junge Soldat. Er sprach erregt. »Ich bin gekommen, um Sie nochmals zu bitten, sich unserem Rückzug anzuschließen, Ai-weh-deh!« sagte er schnell.
    Weil sie im Grunde gegen ihre eigene Angst zu kämpfen hatte, klangen ihre Worte gereizt: »Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich nicht mit der Armee zurückgehe«, fuhr sie ihn an. »Warum müssen Sie mich jetzt mitten in der Nacht damit behelligen?«
    Er machte keinen Versuch hereinzukommen, sondern blieb draußen stehen. »Ob Sie mit uns die Stadt verlassen oder nicht — verlassen müssen Sie sie doch«, drängte er, und seine Stimme hatte einen fast flehenden Ton. »Wir haben sichere Informationen.«
    »Was für Informationen?«
    »Die Japaner haben auf Ihren Kopf einen Preis gesetzt.«
    »Einen Kopfpreis auf Gladys Aylward!« Sie versuchte zu lachen, aber der Laut blieb ihr in der Kehle stecken. »Wem sollte ich wohl wichtig sein! Schon der Gedanke ist unsinnig!«
    Wortlos kramte der Ordonnanzoffizier in seiner Jackentasche, zog ein Stück Papier heraus und reichte es Gladys. »Diese Zettel sind in allen Dörfern rund um Tsechow angebracht, morgen werden sie auch hier an den Türen kleben!«
    Sie ging mit dem Zettel an

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