Eine unbegabte Frau
solche Truppe hatte sie soeben durch das Guckloch des Pförtners im Stadttor gesehen — jetzt marschierte die nächste auf das Tor zu, höchstens hundert Meter von ihr entfernt. Sie kannte ihre Taktik, erst einmal zu schießen und dann vielleicht festzustellen, wen man erwischt hatte. Jeder, der vor ihnen davonlief, zog eine Salve auf sich! Wie ein Bauernjunge, der auf ein rennendes Kaninchen schießt, ließen sie ihre Kugeln mit fröhlichem Ehrgeiz auf ihr bewegliches Ziel los. Hatten ihre Schüsse es erreicht, machten sie sich selten die Mühe, nach der Leiche oder nach den Wunden ihres Opfers zu sehen. Aber sie konnte nun nicht mehr anhalten; sie war gezwungen zu fliehen, und dieses Wissen peitschte sie weiter.
Als sie über den Friedhof jagte, hörte sie Rufe der Soldaten hinter sich, dann das Knacken der Gewehre, das Pfeifen und Abprallen der Kugeln an den Steinen und Felsbrocken um sie her. Sie fühlte einen Schmerz in der Brust, Schweiß in den Augen, aber der Rand des Weizenfeldes war nur noch wenige Meter entfernt. Sie wollte eben zu einem letzten, entscheidenden Endspurt ansetzen, da stieß eine Faust sie in den Rücken. Anstatt zu laufen, lag sie plötzlich flach auf dem Gesicht, Staub und Sand im Mund. Sie spürte keinen Schmerz, nur ein tiefes Erstaunen. Sie wußte, daß sie von einer Kugel getroffen war. Ich sterbe, dachte sie. So also ist der Tod? Quer über ihre Schulterblätter flammte nun ein brennender Schmerz, der ihr unvermutet die nüchterne Denkfähigkeit zurückgab: sie erkannte, daß es jetzt noch nicht ans Sterben ging, daß aber jede Sekunde den Tod bringen konnte, denn die Kugeln schlugen noch immer kleine Fontänen aus dem Staub und sprangen von den Felssteinen um sie herum ab: die Japaner benutzten ihre ausgestreckte Gestalt zu Zielübungen. Mit einer instinktiven Bewegung griff sie nach den Tuchschlingen, die ihren dick wattierten Mantel von oben bis unten schlossen, und öffnete sie in fliegender Hast. Ihre Bibel war mit ihr zu Boden gefallen, Gladys fühlte, wie sie sich unter ihr in den Magen hineindrückte. Es gelang ihr, sich aus ihrem Mantel herauszuarbeiten und ihn wie eine abgestreifte Schlangenhaut hinter sich gleiten zu lassen; dann benutzte sie ihre Bibel wie einen Schlitten und rutschte auf ihr vorwärts, stieß sich mit den Zehen ab und zog sich mit den Händen an Gras und Erde nach vorn. Keuchend erreichte sie den flachen Graben und rollte hinein. Ihr Rücken brannte wie Feuer. Wild hämmerte ihr Herz, als sie hinter sich den Kugelschauer hörte, der den verlassenen Mantel zerfetzte: die Soldaten hatten sich auf ihr Ziel eingeschossen. Das gab ihr neuen Auftrieb, neue Kraft. Gebückt lief sie mit kleinen, schnellen Schritten den Graben entlang, bis das Korn über ihrem Kopf zusammenschlug. Vorsichtig bog sie es auseinander, tauchte in die biegsamen Halme und robbte Schritt für Schritt rückwärts, mit den Händen die Halme wieder aufrichtend und zusammenbiegend, damit nicht die geknickten Weizenhalme ihre Fährte anzeigten.
Mitten im Getreide fühlte sie sich endlich sicherer. Daß sie ihren Mantel verloren hatte, war unangenehm, denn darunter trug sie nur den dünnen Baumwollanzug und fror selbst in der Sonne. Der Schuß im Rücken verursachte stechenden Schmerz. Die Kugel mußte den gepolsterten Mantel durchschlagen haben und über das Schulterblatt hinweggestreift sein. Ihre prüfenden Finger entdeckten eine schmale, tiefeingeschnittene Schramme im Fleisch, die jedoch nur wenig geblutet hatte; sie brauchte sich also keine Sorge zu machen. Die Augen wurden ihr schwer, und sie fühlte eine große Schwäche; es fiel ihr ein, daß sie in der vergangenen Nacht kaum geschlafen hatte. Die Vögel sangen in den Büschen am Rande des Feldes und auf der Stadtmauer — kein anderer Laut war sonst zu hören. Alles schien friedlich. Sie rollte sich zusammen und gähnte. Sie war müde, so müde, daß ihr Wille, ihr Unternehmungsgeist ausgelöscht war. Sie schloß die Augen.
Überrascht stellte sie fest, als sie mehrere Stunden später aufwachte, daß die Sonne hoch am Himmel stand. Es schien grotesk und tollkühn, in einer solchen Lage zu schlafen, und doch war sie froh, denn sie fühlte sich jetzt bedeutend wohler. Nicht einmal Angst spürte sie mehr. Beim Einbruch der Dunkelheit würden sich die Japaner hinter den Stadttoren einschließen; darum mußte sie warten, bis die Sonne unterging, bevor sie den Durchbruch in die Berge wagen konnte. Um ihre Zeit bis zur Dämmerung
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