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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Burgess
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auszunutzen, kroch sie durch das Korn bis zum jenseitigen Rande des Feldes, und sobald die Schatten tief genug waren, um ihr Schutz zu bieten, verließ sie ihr grünes Versteck. Sie spähte nach den Stadtwällen und der Landstraße zurück: nirgends war ein Mensch zu entdecken — sie lief ohne innezuhalten über das wellige Gelände, bis das Bergland sie aufnahm.
    Zwei Tage brauchte sie, um die »Herberge zu den Acht Glückseligkeiten« zu erreichen, und als sie endlich ankam, wußte sie genau, was sie zu tun hatte. Denn während sie noch die felsigen Abhänge überquert hatte, das Gesicht vom Höhenwind gepeitscht, und die steilen Abstürze in die Täler hinuntergeklettert war, hatte sie alle Möglichkeiten geprüft, die ihr offenstanden. Sie mußte fort! Sie mußte diesen Teil von Schansi endgültig verlassen. Nach den schweren Kämpfen der letzten Monate würden die Japaner jedem Mißliebigen gegenüber rücksichtslos vorgehen. Auf die Nachricht hin, daß Gladys Aylward, alias Ai-weh-deh, sich noch in diesem Gebiet aufhielt, würden sie vielleicht Geiseln gefangennehmen, um ihre Auslieferung zu erzwingen. Sie dachte an Hsi-Lien, dessen Frau und Kinder sie lebendig verbrannt hatten. Konnte sie ihre Freunde, ihre Kinder einer solchen Gefahr aussetzen? Der Gedanke war unerträglich. Sie wollte die Kinder — alle Kinder — über die Berge nach Sian führen und dort Unterschlupf suchen. Ihr Entschluß stand fest, als sie die schmale Straße zur Herberge hinunterging.
    Die Kinder jubelten, als sie Gladys wiedersahen, sie liefen im Hof zusammen, lachend, schwatzend, hüpfend. Die beiden Missionsgehilfinnen, denen sie anvertraut waren, erzählten, daß sie sich vom Mandarin Korn ausgebeten hätten, so daß alle munter und gut ernährt waren. Gladys hatte die ganze Schar wieder um sich, wie ein Beet von lauter braunen Köpfen, ihr Hof ein wogendes Feld von lächelnden, schmutzigen Kindern, die sie als ihre wirkliche, gottgegebene Mutter ansahen.
    »Ai-weh-deh!« riefen sie. »Ai-weh-deh ist gekommen und bleibt wieder bei uns.«
    »Heute abend«, sagte sie, »müßt ihr alle früh zu Bett gehen. Morgen wollen wir einen langen Ausflug über die Berge machen. Einen langen, langen Marsch!«
    Sie brachen von neuem in Jubel aus. Ein langer Marsch irgendwohin war immer ein Abenteuer.
    »Ihr müßt früh auf stehen und euer Bettzeug zu einer Rolle zusammenbinden und eure Eßschalen und Stäbchen mitnehmen. Nun auf, alle miteinander, und früh ins Bett! Denkt daran!«
    Sie verschwanden, jedes in seinem Loch, seiner Ecke des Gebäudes, und Gladys mußte, als sie traurig das zerstörte Dach, den schiefhängenden Balkon betrachtete, feststellen, daß das Elaus wirklich nur noch aus Löchern und baufälligen Winkeln bestand. Seufzend ging sie zum Tor — alle Häuser der kleinen Gasse, die zu ihrer Herberge führte, waren schwer beschädigt. Sie ging hinauf zum Osttor und bog in die Hauptstraße ein, und die Trauer um die zerstörte Stadt überwältigte sie fast. Die Stufen des Yamen versanken im Schutt. Im ersten Hof fiel ihr die frühere Pracht, all der Pomp und das altehrwürdige Zeremoniell ein, die seit Jahrtausenden diese Räume belebt und ihr besonders bei den ersten Begegnungen mit dem Mandarin einen tiefen Eindruck gemacht hatten. Ein einziger Wachsoldat stand jetzt vor dem kleinen Zimmer. Er erkannte Gladys, lächelte breit, stieß die Tür auf und schrie begeistert: »Sie kommt!«
    Als sie an ihm vorbeiging, überlegte Gladys, daß in früheren Zeiten eine solche Formlosigkeit ihn den Kopf gekostet hätte.
    Der Mandarin trat auf sie zu, um sie zu begrüßen. Er trug einen einfachen blauen chinesischen Anzug und eine schwarze Kappe. Voll Kummer dachte Gladys einen Augenblick: an seine wunderbaren Gewänder in Rot und Gold. Sogar sein langer, spiegelblanker Zopf war jetzt zu einem kurzen, steifen Schwänzchen gestutzt; dies ging auf einen Befehl der Nationalisten zurück, dem alle chinesischen Männer zu folgen hatten, denn die Japaner waren genial im Erfinden von Foltermethoden bei Männern mit langem Zopf. Einen Mann mit Hilfe seines eigenen Zopfes zu erhängen, fanden sie zum Beispiel über alle Maßen komisch.
    »Ai-weh-deh«, sagte er freundlich, »wie gut ist es, Sie wiederzusehen!«
    »Auch Ihnen wieder zu begegnen ist eine Freude!« antwortete sie und betrachtete ihn unwillkürlich. Er war älter geworden, tiefe Linien hatten sich um Augen und Mund eingegraben. Wie sie selbst, wie alle Menschen hier in Südschansi,

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