Eine unbeliebte Frau
lange überlegt. In Amerika hatte ich einen tollen Job an einer renommierten Klinik in Kentucky. Meine Tochter hat schließlich die Entscheidung gefällt. ›Wir können Oma nicht alleine lassen‹, hat sie gesagt, und da war es klar. Na ja, und so bin ich nach Ruppertshain zurückgekehrt.«
Sie blickte ihn an.
»Denkst du hin und wieder noch an die Turniere und die Heuernten und den Reitunterricht bei deinem Opa?«
»Kaum«, gab Bodenstein zu. »Erst als ich dich wiedergesehen habe, war auf einmal alles wieder da.«
»So ging es mir auch«, sagte Inka. »In den letzten sieben Jahren drehte sich mein ganzes Leben nur um die Klinik.«
»Ihr habt einen guten Ruf.«
»Ja«, sie nickte, »wenn alles so weiterläuft, sind wir bald aus den roten Zahlen raus.« Sie zögerte kurz.
»Es wird doch so weiterlaufen, oder?« Bodenstein wusste, was sie meinte.
»Ich glaube nicht mehr, dass Kerstner etwas mit dem Tod seiner Frau zu tun hat«, erwiderte er deshalb.
»Das könnte ich mir auch nicht vorstellen«, Inka wirkte ein wenig erleichtert. Bodenstein hatte keine Lust, mit Inka über den Fall zu sprechen. Er wollte nicht, dass sie annahm, er sei nur zu ihr gekommen, um sie auszuhorchen.
»Warum bist du hierhergekommen?«, fragte sie schließlich.
Ja, warum? Wegen einer fünfundzwanzig Jahre alten, kindischen Sehnsucht, die er in den Tiefen seiner Erinnerungen längst vergessen und verarbeitet geglaubt hatte, bis zu ihrer Begegnung vor drei Tagen? Sie waren in ihrer Jugend unzertrennlich gewesen, Inka, Quentin, Ingvar, Simone und er. Wie war sie zerbrochen, diese enge Freundschaft? Bodenstein erinnerte sich an den Sommer 1979, als dieser Dr. Hagstedt mit seinen Pferden nach Schloss Bodenstein gekommen war. Latus Lex und Fiorella hatten sie geheißen, die Pferde, und Hagstedt hatte sie Bodenstein zum Reiten zur Verfügung gestellt. Er sollte die Pferde auf Turnieren reiten, deshalb hatte er den ganzen Winter lang in der kleinen Reithalle mit den beiden Pferden gearbeitet, sie trainiert und ausgebildet. Aber es war anders gekommen. Ein schwerer Sturz im Gelände hatte seine Zukunftspläne jäh zerstört. Ingvar hatte die beiden talentierten Pferde übernommen, und was daraus wurde, war längst Geschichte: Latus Lex trug Ingvar über seine ersten S-Springen, mit Fiorella wurde er Europameister der Junioren. Bodenstein stieß einen Seufzer aus. Er hatte lange mit seinem Schicksal gehadert, damals. Wäre er heute ein berühmter Springreiter, wenn er diesen Unfall nicht gehabt hätte? Ingvar hatte die Pferde bekommen – und Inka. Noch auf der Hochzeit von Simone und Roman Reichenbach drei Jahre später hatten sie wie ein Paar gewirkt. Aber irgendetwas war kurz danach vorgefallen, etwas, was Inka dazuveranlasst hatte, nach Amerika zu flüchten. Eigentlich war es eine Ironie des Schicksals, dass sie nun alle wieder hier waren, Ingvar Rulandt, Inka und er. Bodenstein wurde bewusst, dass Inka ihn ansah.
»Latus Lex und Fiorella«, sagte er nun laut.
»Ach Gott«, sie lachte ungläubig, »das ist nicht dein Ernst.«
»Damals war es todernst«, entgegnete er. »Meine ganze Kindheit hindurch war ich fest davon überzeugt, eines Tages Schloss Bodenstein zu leiten und von der Reiterei zu leben.«
Inka wurde ernst und sah ihn aufmerksam an.
»Du hattest dich nach dem Unfall von uns allen zurückgezogen«, sagte sie, »fast so, als hättest du uns die Schuld daran gegeben.«
»Ingvar hatte meine Pferde«, Bodenstein stellte erstaunt fest, dass es tatsächlich noch immer weh tat, daran zu denken. »Ich war ein Krüppel und fühlte mich von ihm verraten und hintergangen. Jeden Tag musste ich euch sehen, dich und Ingvar. Es war ein unerträglicher Zustand für mich.«
»Für mich war es genauso unerträglich«, antwortete Inka. »Wir waren immer gute Freunde, aber du wolltest auf einmal nichts mehr mit mir zu tun haben.«
»Ich hatte den Eindruck, es war genau andersherum«, Bodenstein lächelte leicht. »Ingvar hatte ein schlechtes Gewissen wegen mir, und du warst auf seiner Seite.«
»Das ist nicht wahr«, Inka schüttelte den Kopf. »Aber du hast vor lauter Selbstmitleid nichts mehr bemerkt. Du hast mir ja nicht einmal die Gelegenheit gegeben, mit dir zu reden. Ich meine, du warst schon immer verschlossen und wortkarg, aber plötzlich warst du .«
Bodenstein spürte, dass er sich auf gefährliches Terrain begab, und doch konnte er nicht anders. Er wollte wissen, was sie damals über ihn gedacht hatte.
»War ich – was?«,
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