Eine unerwartete Erbschaft (German Edition)
und wurde von einer älteren Frau mit verkniffenem Gesichtsausdruck verfolgt.
Ryan öffnete die Tür, warf sich mit einer einzigen eleganten Bewegung in den Sitz und zog die Tür sofort wieder zu. Die Frau ging weiter in unsere Richtung, auch als Ryan den Motor anließ und anfuhr. Ich schätzte sie so um die sechzig, mit dem Chic einer Frau mit viel Geld und Zeit. Als wir davonfuhren, hörte ich sie rufen: »Das war das letzte Mal, Ryan. Das ist mein voller Ernst. Nie wieder.«
Ich drehte den Kopf, um sie durch die Heckscheibe zu beobachten. Sie hielt die Faust erhoben wie Scarlett O’Hara, als sie schwor, nie wieder zu hungern. »Was war das denn?«, fragte ich Ryan.
»Ach, vergiss sie einfach«, meinte er, faltete den Scheck zusammen und steckte ihn in seine Hemdtasche. »Die ist vollkommen durchgeknallt. Am liebsten würde ich ihr Konto löschen, aber ich betreue es schon seit Jahren.«
Ihr Konto? Was für ein Konto sollte das sein? Ich dachte, er sei eine Art Firmenberater für Krisen oder Qualitätsanalysen. Irgendwas war unlogisch, doch bevor ich danach fragen konnte, sagte er: »He, du hast den Radiosender verstellt.«
»Ist das schlimm?«
»Nein, ist schon in Ordnung«, sagte Ryan, wirkte aber leicht verärgert. Als das nächste Lied zu Ende war, stellte er den Sender wieder zurück.
Die nächsten Kilometer fuhren wir schweigend weiter. Als der Verkehr dichter wurde, trommelte Ryan ungeduldig aufs Lenkrad. Auf der Schnellstraße traute ich mich zu fragen:
»Möchtest du lieber abbrechen und gleich nach Hause fahren? Das wäre in Ordnung für mich, wirklich.«
»Entschuldige bitte.« Er sah mich von der Seite an und drückte kurz meine Hand. »Ich weiß, dass ich gereizt wirke, aber ich hasse es, mit solchen Leuten zu tun zu haben. Da bekomme ich immer schlechte Laune. Nur diesmal werde ich das nicht zulassen, weil du dabei bist, und ich will uns diesen Tag nicht verderben. Außerdem können wir jetzt nicht einfach abbrechen – für heute Abend habe ich etwas Besonderes geplant.«
»Ach ja?«
»Ja, Miss Lola Watson, so ist es. Ich habe ein elegantes Abendessen reserviert. Sehr feierlich.«
»Und was genau feiern wir?«
»Wir feiern, dass wir es in dieser großen, kalten Welt irgendwie geschafft haben, einander zu finden. Ich habe im Palmer House reserviert. Ich hoffe, es ist dir recht.«
Im Palmer House ? So, wie ich angezogen war, durfte ich da nicht einmal vorbeigehen! »Ja, es ist mir recht«, erwiderte ich. »Aber ich hoffe, deine Planung erlaubt mir noch, nach Hause zu gehen und mich umzuziehen.«
»Was immer Mylady wünschen.«
32
Als ich nach Hause kam, saß Hubert auf dem Sofa und las. Ich würde nicht in einer Grundschule unterrichten wollen, aber gegen die Arbeitszeiten hätte ich nichts einzuwenden. »Du kommst früh«, sagte er ohne aufzusehen. »Du hast zwei Nachrichten. Brother Jasper möchte gern sobald wie möglich mit dir sprechen. Und Mindy hat angerufen – sie wird morgen nicht beim Kleiderkaufen dabei sein, aber du sollst Jessica treffen.«
Ups, ich hatte tatsächlich ganz vergessen, Brother Jasper aufzusuchen, damit er mir »ein paar Dinge zur Vorsicht« erzählen könnte. »Hat Brother Jasper erwähnt, was genau er will?«
»Ich habe nicht mit ihm gesprochen. Er war auf dem Anrufbeantworter.« Er blätterte um. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war er ganz gebannt.
»Das muss ja ein gutes Buch sein.«
Jetzt sah Hubert auf. »Es ist eins der Tagebücher deiner Tante. Du hast sie auf dem Esstisch liegen lassen und ich konnte nicht widerstehen. Du weißt ja, dass ich eine Schwäche für Heimatgeschichte habe. Ich hoffe, du hast nichtsdagegen.«
»Nein, natürlich nicht. Ich wollte sie auch wirklich lesen, aber ...« Ich brach ab, weil ich tatsächlich nicht wusste, warum
ich sie mir bisher nicht angeschaut hatte. Ich schätzte, von einer alten Frau zu lesen, die nie verheiratet war, hatte mich einfach nicht besonders interessiert.
»Sie hat ein unglaubliches Leben geführt. Und sie schreibt sehr anschaulich, sodass ich das Gefühl habe, alles mitzuerleben. Wusstest du, dass sie verlobt war? Aber ihr Verlobter ist im Krieg gefallen. Allein, davon zu lesen, ist herzzerreißend. Sie schreibt, dass seine Schwester bei ihr an der Tür klingelte, das Telegramm in der Hand. May hatte ihr schon am Gesicht ablesen können, dass er tot war, aber sie wollte es nicht glauben.«
Ich setzte mich in den Ohrensessel, um weiter zuzuhören.
Hubert machte ein
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