Eine ungezaehmte Lady
Erleichterung durchströmte ihn wie ein Fluss und spülte die bis jetzt unterdrückten Schmerzen an die Oberfläche. Ihm tat jeder Knochen im Leibe weh. Er musste wirklich so schnell wie möglich aus dem Sattel.
Kurz darauf führte der Junge die Pferde aus dem hellen Sonnenlicht in eine kleine, dunkle Höhle, stieg ab und band das Lasso los.
»Danke«, stieß Rafe mühsam hervor. Als er vorsichtig vom Pferd rutschte, gaben ihm die Knie nach, sodass er unsanft auf dem Hintern landete. »Mach mich schnell los.«
»Wird erledigt.« Der Junge bearbeitete wieder die Schlinge.
Rafe zwang sich, still zu halten, obwohl er den Strick am liebsten mit den Zähnen durchgerissen hätte. Er spürte, wie die behandschuhte Hand des Jungen ihm auf die Schulter tippte.
»Ich muss es durchschneiden.«
»Dann tu es.« Ungeduldig wartete er ab, wohl wissend, dass die Verfolger unerbittlich näherrückten.
Er konnte einen Blick auf ein scharfes Messer erhaschen und fühlte dann, wie damit an dem Strick herumgesäbelt wurde. Es tat höllisch weh, doch das kümmerte ihn nicht. Als das Messer endlich die harten Fasern durchtrennte, ritzte die Klinge seine ohnehin schon wund gescheuerte Haut. Aber auch das war ihm gleichgültig. Es zählte nur die Erleichterung, als ihm die Schlinge endlich über den Kopf gezogen wurde und auf dem Boden landete. Rafe atmete tief durch und lockerte seine Halsmuskeln.
»Jetzt die Handschellen.« Der Junge holte ein Päckchen aus der Satteltasche, kauerte sich neben Rafe und entfaltete einen blauen Stoffbeutel. Er war in einzelne Fächer unterteilt; in jedem steckte ein anderes Einbruchswerkzeug.
Rafe sah zu, wie eine behandschuhte Hand einen Dietrich auswählte. Der Junge hatte lange Finger und schlanke Handgelenke. Nach einigen geschickten Bewegungen öffnete sich das Schloss mit einem Klicken. Rafe riss sich die Handschellen ab, warf sie hin und rieb sich die wunden, geschwollenen Handgelenke, um den Blutkreislauf anzuregen.
Rasch packte der Junge die Dietriche zusammen, verstaute sie wieder in der Satteltasche und kehrte mit einer Feldflasche zurück. Rafe goss sich Wasser übers Gesicht, trank einige große Schlucke und seufzte zufrieden. Dann befeuchtete er sein Halstuch und band es sich um, damit seine gerötete Haut nicht so brannte.
»Am besten verschwinden wir jetzt«, sagte der Junge und wies auf die Pferde.
»Danke«, erwiderte Rafe. Er hielt ihm die Hand hin. »Ich heiße Rafe«, stellte er sich vor. Etwas an dem Jungen kam ihm bekannt vor, doch das Licht war zu schlecht, um viel zu sehen, und außerdem hatte der Junge den Hut tief in die Stirn gezogen. »Rafe Morgan.«
Der Junge drehte Rafes Hand um und legte ein paar Maisfladen und Dörrfleisch hinein.
»Ich kann dein Essen nicht annehmen. Schlimm genug, dass ich dein Wasser getrunken habe. Könnte gefährlich für dich werden.«
»Iss es beim Reiten.« Der Junge griff nach der Feldflasche und steuerte auf sein Pferd zu. Er sah aus, als hätte er die Sachen seines großen Bruders an.
»Danke, ich zahle es dir zurück.« Rafe nahm Handschellen und Schlinge und steckte sie in seine Satteltasche, um keine Spuren zu hinterlassen. »Was ist das nur für eine Stadt, in der Gesetzeshüter aufgeknüpft werden?«
»Bend eben.« Der Junge schwang sich in den Sattel, als täte er das schon seit seiner Geburt.
Rafe stieg auf Justices Rücken. »Eine miese, hinterhältige kleine Schlampe hat mich ans Messer geliefert. Wenn ich die erwische, sorge ich dafür, dass sie am Galgen baumelt.«
Anstelle einer Antwort ritt der Junge einfach los.
Rafe folgte ihm, kaute dabei auf seinem Maisfladen herum und spürte, wie sein Verstand zu arbeiten begann. Immerhin verdiente er ja seinen Lebensunterhalt damit, sich keine Einzelheit entgehen zu lassen. Der Junge hatte Dietriche bei sich. Das Handwerkszeug eines Banditen. Natürlich gab es auch Cowboys, die kleine Füße hatten und ein großes Tamtam um ihre Stiefel veranstalteten, doch dieser Junge brach alle Rekorde. Zudem waren es meistens Revolverhelden, die teure Stiefel wie die des Jungen trugen, verziert mit der Silhouette eines sich aufbäumenden Pferdes vor einem blutroten Hintergrund. Sehr alt konnte er zwar noch nicht sein, doch im Westen wurden die Menschen schnell erwachsen. Also gab es für ihn viele Möglichkeiten, sein eigenes Geld zu verdienen.
Rafe kam zu dem Schluss, dass er dem Jungen nicht über den Weg trauen durfte. Allerdings war er ihm etwas schuldig, denn schließlich hatte er
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