Eine unheilvolle Begegnung
sich eine neue Dose zu holen. Dabei stieß sie fast mit John zusammen, der sich gerade ebenfalls bückte, um sich Nachschub zu holen. »Hoppla. Glaubst du, die Dosen reichen für das ganze Auto?«
John blickte zu ihr auf. In den Falten, die sich um Mund und Augen eingegraben hatten, konnte Sam erkennen, dass er ziemlich große Schmerzen haben musste. Kein Wunder, die Fahrt und die Anspannung waren gar nicht gut für seine Verletzungen. Aber er hatte bisher kein Wort darüber verloren, und sie wollte ihn auch nicht darauf ansprechen. Hoffentlich übernahm er sich nicht und lag am Ende ganz auf der Nase. Noch einmal würde sie ihn wohl nicht transportieren können, schon gar nicht in ihrem derzeitigen Zustand.
Sie bückte sich und legte ihre Finger um eine Dose, genau in dem Moment, als John sich dieselbe griff. Er ließ sie los, als hätte er sich die Finger daran verbrannt. Sam blickte auf und sah genau in seine Augen. Grau. Sie hatte sich schon gefragt, welche Farbe seine Augen hatten, und jetzt sah sie es: ein silbriges Grau mit einigen wenigen blauen Punkten. Die Zeit schien stillzustehen, während sie so ineinander versunken hinter dem Auto hockten. Sofort kam in ihr die Erinnerung an den Kuss wieder hoch. Sie hätte ihn niemals so dicht an sich herangelassen, wenn sie sich nicht von vorneherein zu ihm hingezogen gefühlt hätte. Dass ihre Gefühle durch den Schreck explodiert waren, war nur natürlich und dem Adrenalin zuzuschreiben. Aber dass sie jetzt, nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, immer noch dasselbe fühlte, zeigte ihr, dass die Gefühle echt waren. Das konnte sie akzeptieren. Die Frage war nur, ob John auch etwas empfand. Aber das würde sie wohl erst im Laufe der nächsten Stunden oder Tage herausfinden. Sofern sie so lange am Leben blieben.
Schließlich schüttelte John den Kopf und durchbrach damit den Bann. »Sie muss reichen, mehr Farbe haben wir nicht, und wir können auch nicht zurückfahren, um mehr zu besorgen.« Er sprach vom Autolack, als hätte es diesen Moment eben nie gegeben.
»Gut.« Damit schnappte sich Sam ihre Dose und machte sich wieder an die Arbeit.
Morgan ließ sich auf die Hacken zurücksinken und fuhr mit beiden Händen über sein Gesicht. Beinahe hätte er sie wieder an sich gerissen und geküsst. Wahrscheinlich wusste sie gar nicht, was sie mit ihm anstellte, wenn sie ihn mit ihren großen blauen Augen so ansah. Man konnte so deutlich ihre Gefühle darin lesen, als wären sie der Spiegel zu ihrer Seele. Gerade eben hatte Interesse darin gelegen, Faszination und auch eine gewisse Scheu – und Verlangen. Mit zusammengebissenen Zähnen nahm er sich eine neue Dose, zog den Deckel ab und fing mit dem Sprühen an.
Es zeichnete sich jetzt schon ab, dass die neue Lackierung nur auf Entfernung für Weiß gehalten werden würde. Also würden sie sich am besten nachts auf den Weg machen und tagsüber irgendwo einen Unterschlupf suchen, bis sie an einem sicheren Ort angekommen waren. Ihm schwebte da auch schon ein bestimmter Platz vor. Doch dafür würden sie einige Tage unterwegs sein. Und einen wirklich weiten Umweg um Grand Junction herum machen müssen. Er wollte nicht Gefahr laufen, wieder in die Hände seiner »Kumpane« zu geraten. Einmal hatte ihm vollauf gereicht. Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, als er daran dachte, was sie mit ihm angestellt hatten.
Sam warf ihm einen Blick über das Autodach zu. »Warum machst du nicht eine kurze Pause?«
Wärme stieg in seine Wangen, und er richtete sich gerader auf. »Dafür haben wir keine Zeit.«
»Aber es bringt auch nichts, wenn du jetzt zusammenklappst.«
Er blickte sie scharf an. »Warum sollte ich das? Mir geht es gut.«
»Du sahst aber eben nicht so aus.«
»Sam …«
Sie hob die Hände. »Okay, ich bin ja schon still. Ich wollte es nur gesagt haben.«
Sein Mund verzog sich zu einem leichten Lächeln. »Danke.«
»Bitte.«
Sam tauchte hinter dem Auto ab und bearbeitete weiter den unteren Teil ihrer Seite. Es war wirklich erstaunlich, wie gut sie sich hielt nach dem, was ihr gerade erst passiert war. Klaglos und vor allem, ohne ihn mit Fragen zu löchern, leistete sie ihren Anteil an ihrer hoffentlich erfolgreichen Flucht. Es war klar, dass die Fragen früher oder später kommen würden, aber Sam wusste anscheinend genau, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür war. Morgan warf einen letzten Blick auf die Umgebung und widmete sich dann wieder seiner Aufgabe. Dabei unterdrückte er konsequent
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