Eine Unheilvolle Liebe
jeder, der über einundzwanzig war, herumstehen und sich das Maul über die Lebenden zerreißen, allerdings erst nachdem er damit aufgehört hatte, sich das Maul über die Verstorbenen zu zerreißen. Und alle unter dreißig würden stockbesoffen hinter einem der Mausoleen sitzen. Alle außer mir. Ich war zu sehr mit dem Andenken an meine Mutter beschäftigt.
»Hey, Mann.« Link kam angetrabt und lächelte die Schwestern an. »Guten Tag, die Damen.«
Tante Prue prustete und schwitzte. »Wie geht’s dir heute, Wesley? Mir scheint, du wächst wie Unkraut.«
»Jawohl, Ma’am«, sagte Link höflich.
Hinter ihm tauchte Rosalie Watkins auf und winkte Tante Prue zu, woraufhin diese sagte: »Ethan, warum gehst du nicht ein Stück mit Wesley? Ich möchte Rosalie fragen, welches Mehl sie für ihre Bananen-Ananas-Torte verwendet.« Tante Prue rammte ihren Krückstock ins Gras, und Thelma half Tante Mercy, aus ihrem Rollstuhl aufzustehen.
»Kommt ihr wirklich ohne mich zurecht?«
Tante Prue warf mir einen missbilligenden Blick zu. »Natürlich. Wir haben schon auf uns selbst aufgepasst, als du noch gar nicht auf der Welt warst.«
»Als dein Vater noch gar nicht auf der Welt war«, verbesserte sie Tante Grace.
»Stimmt, da muss ich dir ausnahmsweise mal recht geben.« Tante Prue öffnete ihre Handtasche und angelte etwas heraus. »Ich habe die Marke dieser verflixten Katze gefunden.« Sie sah Lucille missbilligend an. »Hat ja nicht viel genützt, das Ding. Manchen Geschöpfen ist es einfach egal, dass man jahrelang für sie gesorgt hat und sie an der eigens für sie angebrachten Wäscheleine spazieren gehen durften. Da kann man kein Fünkchen Dankbarkeit erwarten.« Die Katze stolzierte davon, ohne Tante Prue auch nur eines Blickes zu würdigen.
Ich nahm das kleine Metallschildchen, in das Lucilles Namen eingraviert war, und steckte es in meine hintere Hosentasche. »Der Ring daran fehlt.«
»Am besten bewahrst du es in deinem Geldbeutel auf, falls du mal beweisen musst, dass sie gegen Tollwut geimpft ist. Sie beißt nämlich gerne. Thelma soll sich um ein neues Schildchen kümmern.«
»Danke.«
Die Schwestern hakten sich unter und machten sich auf den Weg. Ihre drei gigantischen Monsterhüte stießen aneinander, während sie auf ihre Freundinnen zuschlurften. Sogar die uralten Schwestern hatten Freunde. Nur mein Leben war beschissen.
»Shawn und Earl haben Bier und Jim Beam dabei. Wir treffen uns hinter der Krypta der Honeycutts.«
Na ja, ich hatte wenigstens Link. Allerdings wussten wir beide, dass ich mich nirgendwo betrinken würde. In ein paar Minuten würde ich am Grab meiner Mutter stehen. Ich würde daran denken, wie sie immer gelacht hatte, wenn ich ihr von Mr Lee und seinen verqueren Ansichten über die amerikanische Historie oder, wie sie zu sagen pflegte, amerikanische Hysterie erzählte. Wie sie und mein Dad in unserer Küche barfuß zu James Taylor getanzt hatten. Wie sie immer eine Antwort parat hatte, egal was schieflief. Jede Wette, sie hätte selbst dann noch eine Antwort gehabt, wenn meine Exfreundin mich gegen einen mutierten Übernatürlichen eingetauscht hätte.
Link legte mir eine Hand auf die Schulter. »Alles in Ordnung mit dir?«
»Ja, alles bestens. Lass uns ein bisschen herumgehen.« Ich würde heute an ihrem Grab stehen, aber ich war noch nicht bereit dazu. Jetzt noch nicht.
L, wo bist …
Ich riss mich zusammen und versuchte, an etwas anderes zu denken. Keine Ahnung, warum ich mich immer noch nach ihr sehnte. Vermutlich aus Gewohnheit. Statt Lenas Stimme hörte ich Savannah. Sie stand vor mir, war viel zu stark geschminkt, sah aber irgendwie trotzdem hübsch aus: glänzende Haarmähne, dick getuschte Wimpern und ein Sommerkleid mit schmalen Trägern, die nur dem Zweck dienten, dass Jungs davon träumten, sie herunterzustreifen. Vorausgesetzt man wusste nicht, was für ein Miststück sie war. Oder man wusste es und scherte sich nicht darum.
»Das mit deiner Mama tut mir wirklich leid, Ethan.« Sie räusperte sich umständlich. Wahrscheinlich hatte ihre Mutter sie zu mir geschickt, Stütze der Gesellschaft, die Mrs Snow nun einmal war. Heute Abend würde ich mehr als nur eine Schüssel mit Essen auf unserer Treppe vorfinden, so wie damals, einen Tag nach ihrer Beerdigung. Seit dem Tod meiner Mutter war ein gutes Jahr vergangen, aber in Gatlin schlich die Zeit langsam dahin, so wie Hundejahre, nur eben umgekehrt. Und genau wie am Tag nach der Beerdigung würde Amma die Schüsseln
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