Eine Unheilvolle Liebe
tatsächlich mit einem Bann belegt hatte, wollte ich es lieber nicht wissen.
Seit der Beerdigung hatte ich das Grab meiner Mutter nur einmal besucht. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie tatsächlich hier lag, und erst recht nicht, dass sie wie Genevieve oder die Ahnen zwischen den Gräbern herumspukte. Nur im Archiv und im Arbeitszimmer zu Hause fühlte ich mich ihr nahe. Das waren die Orte, an denen sie gerne gewesen war, dort konnte ich sie mir vorstellen, wo auch immer sie jetzt war.
Aber nicht hier unter der Erde, nicht in dem Grab, an dem mein Dad kniete und die Hände vors Gesicht geschlagen hatte. Er war schon seit Stunden hier, das sah man ihm an.
Ich räusperte mich, damit er auf mich aufmerksam wurde. Irgendwie kam es mir vor, als würde ich die beiden in ihrer Zweisamkeit stören.
Er wischte sich übers Gesicht und stand auf. »Wie geht es dir?«
»Ganz gut, denke ich.« Schwer zu beschreiben, wie ich mich fühlte, aber gut ging es mir ganz sicher nicht.
Er schob die Hände in die Hosentaschen und starrte auf den Grabstein. Davor lag eine zarte weiße Blume im Gras. Sternjasmin.
Ich las die Inschrift, die mit schwungvollen Buchstaben in den Stein gemeißelt war:
LILA EVERS WATE
GELIEBTE FRAU UND MUTTER
SCIENTIAE CUSTOS
Ich las die dritte Zeile noch einmal. Mir war sie schon bei meinem letzten Besuch aufgefallen, Mitte Juli, ein paar Wochen vor meinem Geburtstag. Damals war ich allein hergekommen, und bei meiner Rückkehr nach Hause war ich noch so benommen vom Anblick des Grabes gewesen, dass ich nicht mehr daran dachte. »Scientiae Custos.«
»Es heißt Bewahrerin des Wissens. Marian hat es vorgeschlagen. Es passt gut, meinst du nicht auch?«
Wenn du wüsstest, Dad, dachte ich und zwang mich zu lächeln. »Ja, denn genau das war sie.«
Mein Vater legte mir den Arm um die Schulter und drückte mich fest, so wie er es früher gemacht hatte, wenn meine Juniormannschaft eine Niederlage einstecken musste. »Sie fehlt mir sehr. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass sie nicht mehr bei uns ist.«
Meine Kehle war wie zugeschnürt, deshalb brachte ich kein Wort heraus. Ich fürchtete, jeden Augenblick ohnmächtig zu werden, so weh tat mein Herz. Meine Mutter war gestorben. Ich würde sie niemals wieder sehen, egal wie viele Seiten sie in ihren Büchern aufschlug oder wie viele Botschaften sie mir sandte.
»Ich weiß, das alles war sehr schwer für dich, Ethan. Ich wollte mich dafür entschuldigen, dass ich in den vergangenen Monaten nicht für dich da gewesen bin, jedenfalls nicht so, wie ich es hätte sein sollen. Ich war einfach …«
»Dad«, unterbrach ich ihn, denn ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen schossen. Aber ich wollte nicht weinen. Diese Genugtuung wollte ich den versammelten Auflaufbäckerinnen nicht verschaffen.
Er drückte mich noch einmal kurz. »Ich mache einen Spaziergang und lass dich ein wenig allein mit ihr.«
Ich betrachtete den Grabstein, in den ein kleines keltisches Zeichen eingemeißelt war. Awen. Ich kannte es, denn meine Mutter hatte es immer besonders gemocht. Die drei Linien symbolisierten Lichtstrahlen, die an der Spitze aufeinander zuliefen.
Hinter mir hörte ich Marians Stimme. » Awen. Das ist gälisch und bedeutet dichterische Eingebung oder geistige Erleuchtung. Zwei Dinge, die deine Mutter wertschätzte.« Ich musste an die Zeichen im Türstock von Ravenwood denken, an die Zeichen im Buch der Monde und an der Clubtür des Exil . Symbole hatten eine Bedeutung, die manchmal über das bloße Wort hinausging. Meine Mutter hatte das gewusst. Ich fragte mich, ob sie deshalb eine Hüterin geworden war oder ob sie dieses Wissen von den Hütern vor ihrer Zeit erworben hatte. Es gab so vieles, was ich nie mehr über sie erfahren würde.
»Entschuldige, Ethan. Wärst du lieber allein?«
Ich ließ es zu, dass Marian mich umarmte. »Nein. Ich habe nicht das Gefühl, dass sie da unten liegt. Verstehst du das?«
»Ja, sehr gut sogar«, erwiderte sie lächelnd. Sie küsste mich auf die Stirn, dann zog sie eine grüne Tomate aus ihrer Tasche und legte sie vorsichtig auf den Grabstein, damit sie nicht herunterfiel.
»Als treue Freundin hättest du sie in Buttermilch schmoren müssen«, sagte ich mit einem schiefen Grinsen.
Marian legte den Arm um mich. Sie hatte ihr bestes Kleid an, wie alle anderen Friedhofsbesucher auch, aber in Sachen Eleganz konnte es keiner mit ihr aufnehmen. Das Kleid war von einem weichen Gelb, wie geschmolzene Butter, aus
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