Eine Unheilvolle Liebe
Ich bin zu alt, als dass ich mich irgendwohin schicken ließe. Ich bin aus freien Stücken hier.« Sie zeigte auf mich. »Du kannst nur hoffen, dass Amma nicht auf die Idee kommt, dich zu suchen. Seit du verschwunden bist, sitzt sie wie auf Kohlen.«
Wenn Tante Prue wüsste, dass Amma schon längst da gewesen war.
»Was machst du hier unten, Tante Prue?« Selbst wenn sie über die Tunnel Bescheid wusste, das unterirdische Labyrinth war nicht gerade der sicherste Ort für eine alte Dame.
»Ich wollte dir etwas bringen.« Tante Prue öffnete ihre Handtasche und hielt sie so, dass wir hineinsehen konnten. Unter ihrem Nähzeug und den Gutscheinen und der Taschenausgabe der King-James-Bibel lag ein dickes, aber ordentlich gefaltetes Bündel vergilbter Papiere. »Na los, nimm sie.« Tante Prue hätte mich genauso gut auffordern können, mich mit der Nähschere zu erstechen. Nie im Leben würde ich einfach so in die Handtasche einer Lady greifen. Einen größeren Verstoß gegen die guten Sitten gab es im ganzen Süden nicht.
Liv schien das Problem verstanden zu haben. »Darf ich?« Wahrscheinlich stöberten britische Männer auch nicht in Damenhandtaschen.
»Wozu habe ich sie sonst mitgebracht?«
Liv zog das Bündel Papiere aus Tante Prues Tasche und breitete sie vorsichtig auf dem weichen Grasboden aus. »Ist es das, wofür ich es halte?«
Neugierig beugte ich mich vor und warf einen Blick auf die Papiere. Sie sahen aus wie Aufrisszeichnungen oder Baupläne, die in verschiedenen Farben und von verschiedenen Händen angefertigt worden waren. Sie waren peinlich sauber auf von Hand kariertes Papier gezeichnet, alle Zeilen waren im gleichen Abstand zueinander und schnurgerade. Mir fielen die vielen Linien auf, die sich überschnitten.
»Kommt darauf an, wofür du es hältst.«
Livs Hände zitterten. »Das ist eine Karte des Tunnel-Labyrinths.« Sie sah Tante Prue an. »Darf ich fragen, woher Sie die haben, Ma’am? So etwas habe ich noch nie gesehen, nicht einmal in der Lunae Libri .«
Tante Prue zog ein rot-weiß gestreiftes Pfefferminzbonbon aus ihrer Tasche. »Ich hab sie von meinem Daddy und der hat sie von meinem Großvater. Sie ist uralt.«
Ich war sprachlos. Lena hatte angenommen, ohne sie würde mein Leben normal verlaufen – was für ein Irrtum. Fluch hin oder her, so wie es aussah, hatten meine Vorfahren schon immer jede Menge mit Castern zu tun gehabt.
Und zum Glück auch mit ihren Tunneln.
»Die Tunnel-Karte ist natürlich noch lange nicht fertig. Früher bin ich mal eine recht gute Zeichnerin gewesen, aber dann hat mir eine üble Schleimbeutelentzündung einen Strich durch die Rechnung gemacht.«
»Ich wollte ihr helfen, aber ich kann das nicht so gut wie deine Tante«, sagte Thelma entschuldigend. Tante Prue wedelte wieder mit ihrem Taschentuch.
»Du hast das gezeichnet, Tante Prue?«
»Einen Teil davon.« Tante Prue stieß ihren Stock auf den Boden und reckte sich stolz.
Staunend betrachtete Liv die Zeichnungen. »Wie haben Sie das gemacht? Die Tunnel sind endlos.«
»Nach und nach und Stück für Stück. Auf dieser Karte sind nicht sämtliche Tunnel verzeichnet, in erster Linie die von Carolina und ein paar aus Georgia. Weiter sind wir nicht gekommen.«
Es war unglaublich. Meine tattrige Tante sollte es geschafft haben, die Caster-Tunnel zu kartografieren?
»Wie hast du das angestellt, ohne dass Tante Grace und Tante Mercy es mitgekriegt haben?« Seit ich denken konnte, hockten die drei so eng aufeinander, dass sie sich gegenseitig den Platz streitig machten.
»Wir haben nicht immer zusammengewohnt, Ethan.« Tante Prue senkte die Stimme, als fürchtete sie, Tante Mercy und Tante Grace könnten lauschen. »Und genau genommen spiele ich am Donnerstag auch nicht Bridge.«
Ich versuchte, mir Tante Prue vorzustellen, wie sie die Caster-Tunnel zeichnete, während die anderen alten Damen der TAR im Gemeindesaal der Kirche Karten spielten.
»Nimm sie. Ich schätze, du wirst sie noch brauchen, wenn du vorhast, hier unten zu bleiben. Nach einer Weile wird es sehr verwirrend. Manchmal wusste ich selbst nicht mehr, wo ich eigentlich war, und ich hatte große Mühe, nach South Carolina zurückzufinden.«
»Danke, Tante Prue. Aber …« Ich stockte. Wie um alles in der Welt sollte ich es ihr erklären – das Bogenlicht und die Visionen, Lena und John Breed, die Weltenschranke und der Mond, der zur Unzeit gekommen war, der verschwundene Stern und die verrückten Zeiger, die sich an Livs Handgelenk
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