Eine Unheilvolle Liebe
Natürlich hatte sie an Lena gedacht. Die Frage war: Wieso hatte ich nicht an Lena gedacht?
Marian blickte mich an. »Warum sagst du mir nicht, was dir heute wirklich durch den Kopf geht?«
»Was soll ich hier im Archiv machen, Tante Marian?« Ich war nicht in der Stimmung, darüber zu reden.
Mit einem Seufzer wechselte sie das Thema. »Ich dachte, du könntest mir dabei helfen, Ordnung zu schaffen. Viele der Unterlagen und Bücher hier haben mit dem Medaillon und Ethan und Genevieve zu tun. Jetzt wo wir wissen, wie diese Geschichte ausging, könnten wir ja etwas Platz für die nächste Geschichte schaffen.«
»Und was ist die nächste Geschichte?« Ich nahm ein altes Foto des Gemäldes in die Hand, das in Macon Ravenwoods Eingangshalle hing. Es zeigte Genevieve, sie trug darauf das Medaillon. Ich wusste noch genau, wann Lena und ich dieses Foto zum ersten Mal angeschaut hatten. Es kam mir vor, als wären seit damals Jahre vergangen, tatsächlich waren es nur einige Monate.
»Ich könnte mir denken, dass es die Geschichte von dir und von Lena ist. Was an ihrem Geburtstag geschehen ist, wirft eine Menge Fragen auf, und auf die meisten weiß ich keine Antwort. Ich habe bisher nie von einem Fall gehört, wo sich ein Caster in der Nacht seiner Berufung nicht zwischen Dunkel und Licht entscheiden musste – außer in Lenas Familie, aber dort trifft ein anderer die Entscheidung für sie. Jetzt wo Macon uns nicht mehr helfen kann, müssen wir wohl selbst die Antwort auf diese Fragen finden.« Lucille sprang auf den Stuhl meiner Mutter und stellte die Ohren auf.
»Aber wo um alles in der Welt sollen wir anfangen?«
»Wer den Anfang des Weges wählt, wählt auch das Ziel, zu dem er führt.«
»Ist das Thoreau?«
»Nein, Harry Emerson Fosdick. Etwas älter und schwerer verständlich, aber immer noch ziemlich bedeutungsvoll, wie ich finde.« Mit einem Lächeln wandte sich Marian zur Tür.
»Willst du mir nicht helfen?«
»Ich kann Olivia nicht so lange allein lassen, sonst ordnet sie die Bestände neu, und dann müssen wir alle Chinesisch lernen.« Marian betrachtete mich nachdenklich. In diesem Moment sah sie ganz wie meine Mutter aus. »Ich bin sicher, du kommst gut ohne mich zurecht. Wenigstens für den Anfang.«
»Ich habe keine andere Wahl, oder? Als Hüterin darfst du mir ja nicht helfen.« Ich war immer noch verbittert über Marians Enthüllung. Sie hatte von Anfang an gewusst, was meine Mutter mit der Welt der Caster zu tun gehabt hatte, es mir jedoch verschwiegen. Es gab so vieles, was den Tod meiner Mutter betraf, das mir Marian nicht sagte. Alles lief immer auf dieses vermaledeite Gesetz hinaus, an das Marian als Hüterin gebunden war: Sie durfte sich nicht einmischen.
»Ich darf dir nur helfen, wenn du dir selbst hilfst. Ich kann den Lauf der Dinge nicht ändern, ich kann das Dunkle und das Lichte nicht trennen und in die Ordnung der Dinge nicht eingreifen.«
»Das alles ist so eine verdammte Scheiße.«
»Was?«
»Es ist wie die Oberste Direktive bei Star Trek. Es ist verboten, sich in die Entwicklung einer Spezies einzumischen, jeder Planet muss sich in seiner eigenen Geschwindigkeit weiterentwickeln dürfen. Man darf Hyperspace oder Warp-Antrieb nicht einführen, wenn die Lebewesen ihn dort noch nicht selbst entdeckt haben. Aber Captain Kirk und die Besatzung der Enterprise halten sich trotzdem nie daran.«
»Im Gegensatz zu Captain Kirk habe ich keine Wahl. Eine Hüterin zwingt ein mächtiger Bann, weder für das Lichte noch für das Dunkle Partei zu ergreifen. Nicht einmal wenn ich es wollte, könnte ich meine Bestimmung ändern. Ich habe meinen eigenen Platz in der natürlichen Ordnung der Caster-Welt und des Universums.«
»Ist ja schon gut.«
»Wie gesagt, ich habe nicht die Macht, die Dinge zu ändern. Wollte ich es dennoch versuchen, würde ich nicht nur mich selbst zerstören, sondern auch die, denen ich helfen wollte.«
»Aber meine Mutter ist trotzdem gestorben.« Ich weiß selbst nicht, warum ich das sagte, aber ich verstand einfach den Sinn des Ganzen nicht. Marian durfte sich nicht einmischen, um die Menschen, die ihr lieb waren, zu schützen, aber der Mensch, der ihr am liebsten war, musste trotzdem sterben.
»Du willst wissen, ob ich den Tod deiner Mutter hätte verhindern können?« Sie begriff sofort, worauf ich hinauswollte. Ich starrte auf meine Turnschuhe und fragte mich, ob ich ihre Antwort wirklich hören wollte.
Marian fasste mich am Kinn und hob meinen Kopf hoch,
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