Eine Unheilvolle Liebe
passierte, wie Amma schon gesagt hatte. Ich hatte allerdings den Verdacht, dass es dabei nicht in erster Linie um mich ging. »Hast du schon mal was von einem Kerl gehört, der John Breed heißt?«
Sie erstarrte. »Ethan Wate, lass es nicht so weit kommen, dass ich das Kotelett an Lucille verfüttere.«
»Nein, Ma’am.«
Amma ahnte etwas, und es war nichts Gutes, aber sie wollte nicht darüber reden. Das wusste ich so sicher, wie ich ihr Kotelettrezept kannte, für das sie keine einzige Zwiebel brauchte.
Der Bücherwurm
14.6.
»Wenn es Melvil Dewey für gut befunden hat, dann ist es auch für mich gut.« Marian blinzelte mir zu, als sie einen Stoß neuer Bücher aus einer Pappschachtel nahm und daran roch. Überall lagen Bücher herum, die Stapel reichten ihr fast bis zum Kopf. Lucille schlich zwischen den Büchertürmen umher und jagte eine Heuschrecke. Eigentlich durfte man keine Tiere in die Stadtbibliothek von Gatlin mitnehmen, aber Marian hatte eine Ausnahme gemacht, da nur Bücher, aber keine Besucher hier waren. Am ersten Tag der Sommerferien ging nur ein Verrückter in die Bibliothek oder jemand, der sich ablenken wollte. Jemand, der nicht mehr mit seiner Freundin sprach oder mit dem seine Freundin nicht mehr sprach, oder jemand, der nicht einmal mehr wusste, ob er überhaupt noch eine Freundin hatte – und dem das alles in den zwei bisher längsten Tagen seines Lebens passiert war.
Ich hatte immer noch nicht mit Lena gesprochen. Ich redete mir ein, dass ich zu wütend auf sie war, aber das war auch nur eine der Lügen, mit denen man sich davon überzeugen wollte, dass man das Richtige tat. In Wahrheit wusste ich nicht, was ich ihr sagen sollte. Ich wollte nicht fragen und ich fürchtete mich vor den Antworten. Außerdem war nicht ich es, der mit irgendeinem Typen auf dem Motorrad abgehauen war.
Hinter den Bücherstapeln ertönte plötzlich eine Stimme. »Das ist das reine Chaos. Die Dezimalklassifikation von Dewey ist ein glatter Witz. Ich finde keinen einzigen Almanach, in dem ich die Mondbahnen nachschlagen könnte.«
»Na, na, Olivia …« Marian schmunzelte und betrachtete die Bücher in ihrer Hand. Vom Alter her hätte sie meine Mutter sein können, auch wenn es einem schwerfiel, das zu glauben, wenn man sie so sah. Sie hatte kein einziges graues Haar und auch kein Fältchen in ihrem gebräunten Gesicht; sie sah aus, als wäre sie höchstens dreißig.
»Professor Ashcroft, wir schreiben nicht mehr das Jahr 1876. Die Zeiten ändern sich.« Es war die Stimme eines Mädchens. Sie sprach mit Akzent – einem britischen, nahm ich an; zumindest redeten die Leute in James-Bond-Filmen so.
»Auch Deweys Klassifikationssystem hat sich geändert. Zweiundzwanzigmal, um genau zu sein.« Marian ordnete ein Buch ins Regal ein.
»Und was ist mit der Kongress-Bibliothek?« Die Stimme klang verärgert.
»Gib mir noch hundert Jahre Zeit.«
»Und das universelle Klassifikationssystem?« Jetzt klang sie genervt.
»Wir sind hier in South Carolina, nicht in Belgien.«
»Wie wär’s mit dem Harvard-Yenching-System?«
»Hier spricht niemand chinesisch, Olivia.«
Ein blondes, schlaksiges Mädchen streckte den Kopf hinter den Bücherstapeln hervor. »Das stimmt nicht ganz, Professor Ashcroft. Zumindest nicht während der Sommerferien.«
»Du sprichst chinesisch?«, platzte ich heraus. Als Marian von der Praktikantin erzählt hatte, die ihr den Sommer über bei ihren Forschungen zur Hand gehen sollte, hatte sie nicht gesagt, dass es eine Teenager-Ausgabe von ihr selbst sein würde. Abgesehen von dem honigfarbenen Haar, der blassen Hautfarbe und dem Akzent hätten die beiden Mutter und Tochter sein können. Schon auf den ersten Blick hatte das Mädchen eine gewisse Ähnlichkeit mit Marian, die schwer zu beschreiben war und die sich sonst bei niemandem in der Stadt fand.
Das Mädchen sah mich an. »Du etwa nicht?« Sie versetzte mir einen Knuff in die Seite. »War nur ein Witz. Meiner Meinung nach reden die Leute hier in der Gegend ja auch nicht wirklich englisch.« Lächelnd streckte sie mir die Hand hin. Sie war groß, aber ich war größer als sie, und sie blickte zu mir hoch, als sei sie bereits sicher, dass wir beide beste Freunde werden würden. »Olivia Durand. Meine Freunde nennen mich Liv. Und du bist sicher Ethan, was ich ehrlich gesagt kaum glauben kann. So wie dich Professor Ashcroft beschrieben hat, habe ich mir eher einen verwegenen, tollkühnen Draufgänger vorgestellt, vielleicht sogar mit
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