Eine unzüchtige Lady
Romanfigur ließ sie ihr eigenes vergessen.
Wenige Augenblicke später betrat sie den Salon. Ihr Gast hatte bereits auf einem der mit hellgrüner Seide bezogenen Stühle Platz genommen. Der Stoff bildete einen Kontrast zu ihrer lebendigen Farbe. Sie war unglaublich schön in dem cremefarbenen Tageskleid, das mit winzigen blauen Blumen bestickt war. Ihr üppiges Haar trug sie in einem einfachen, schweren Knoten im Nacken. Lady Wynn betrachtete sie mit diesen unverkennbaren
grauen Augen, die von langen Wimpern beschattet wurden. »Guten Tag, Miss Reid.«
»Guten Tag, Mylady.«
»Danke, dass Ihr mich empfangt.«
»Natürlich. Wie erfreulich, dass Ihr mir einen Besuch abstattet.«
Wenn Annabel sich recht entsann, waren sie einander vor einiger Zeit vorgestellt worden, und ihre Wege kreuzten sich oft bei gesellschaftlichen Ereignissen. Ihre Bekanntschaft war jedoch eher flüchtig, man nickte einander nur grüßend zu. Annabel war neugierig, welchen Grund Lady Wynn für ihren Besuch hatte.
»Ich bin eigentlich nicht zufällig vorbeigekommen. Ich bin hier, weil ich Euch in einer bestimmten Angelegenheit sprechen möchte. Ich hoffe, Ihr empfindet das nicht als unangenehm.«
Das wurde ja immer verblüffender. Annabel setzte sich ihrem unerwarteten Gast gegenüber und strich verlegen über ihren zerknitterten Rock. Obwohl Caroline Wynn nur wenige Jahre älter war als sie, strahlte sie eine sanfte und gefasste Gelassenheit aus, die Annabel das Gefühl gab, ein Schulmädchen zu sein. Sie fragte nach: »Unangenehm?«
»Ich würde es schätzen, wenn das, was wir besprechen, unter uns bleiben würde.«
Nun wurde es interessant.
»Wenn Ihr mich in einer Sache ins Vertrauen ziehen wollt, wird es mir eine Ehre sein, Eure Bitte zu erfüllen.« Annabel sprach langsam und versuchte gar nicht, ihre Überraschung zu verbergen. »Obwohl ich zugeben muss, dass ich erstaunt bin. Wir sind zwar keine Fremden, aber kaum mehr als das.«
Ein Lächeln, das sie nur wehmütig nennen konnte, umspielte den Mund ihrer Besucherin. »Niemand kann zu viele Freunde haben, und ich finde, bisweilen habe ich zu wenige. Wer weiß?
Vielleicht überraschen wir einander. Ich glaube, wir haben letztlich eine Menge gemeinsam.«
»Tatsächlich? Wie das?«
»Nun, zum einen liegen wir mit unserem Alter nicht weit auseinander. Außerdem sind wir beide gewissermaßen allein auf dieser Welt. Ihr aufgrund des frühen Verlustes Eurer Eltern, und ich seit dem Tag, an dem mein Vater begann, meine Existenz zu ignorieren. Nicht zu vergessen habe ich einen Mann geheiratet, den ich nicht liebte, und Ihr steht nach allem, was man so hört, kurz davor, dasselbe zu tun.«
Wenn man es so ausdrückte, klang es schrecklich. Annabel spürte, wie sie auf diese freimütige Beobachtung reagierte. Ihr Rückgrat versteifte sich, und sie presste die Lippen aufeinander. »Wie um alles in der Welt könnt Ihr wissen, was ich für Lord Hyatt empfinde?«
Caroline Wynn schien von ihrem reservierten Tonfall eher unbeeindruckt. »Ich weiß es nicht. Darum bin ich hergekommen, um mit Euch zu reden.«
Es wäre wohl eine Untertreibung zu behaupten, dass Annabel verwirrt war.
»Entschuldigt, Mylady, aber ich kann nicht erkennen, warum Euch das betrifft.«
Eine goldbraune Augenbraue hob sich. »Ich habe eine schreckliche Ehe durchlebt. Diesen Zustand würde ich wirklich niemandem wünschen.«
»Nichts an Alfred ist schrecklich.« Ausgenommen dieser leidenschaftslose Kuss natürlich, flüsterte ihr eine innere Stimme zu.
»Darin stimme ich Euch zu. Er ist ein netter Mann, soweit ich das beurteilen kann.« Lady Wynn seufzte leise und durchaus beredet. »Aber liebt Ihr ihn?«
Niemand hatte sie das bisher gefragt. Niemand. Nicht ihr Vormund,
nicht Margaret. Nicht einmal Alfred. Das erschütterte sie, und dabei zitterte Annabel schon allein beim Gedanken an ihre bevorstehende Vermählung. Das verdankte sie allein Derek. Bei ihrem Leben, es fiel ihr nicht ein, was sie auf diese Frage antworten sollte, die sie nie erwartet hätte.
In den wunderschönen silbergrauen Augen blitzte Verständnis auf. Das Schweigen zwischen ihnen dehnte sich. Schließlich murmelte Lady Wynn: »Ich verstehe.«
Annabel schluckte krampfhaft. »Er ist freundlich.«
»Ja, den Eindruck macht er auch auf mich.«
Sie hasste es, dass Mitgefühl in der Stimme mitschwang. »Und großzügig.«
»Ich bin sicher, das ist er.«
»Und ein geeigneter Gemahl.« Verflixt, hatte sie wirklich, wirklich gerade dieses
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