Eine unzüchtige Lady
schreckliche Wort benutzt, das ihr einfach so entschlüpft war? Als wäre es eine bewundernswerte Eigenschaft?
»Das ist er.« Caroline Wynn lächelte schmal.
Warum passierte das hier? Warum tauchte eine Frau, die sie kaum kannte, plötzlich auf und sprach ihre größten Zweifel an? Dieser Besuch kam zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt.
Oder vielleicht war es ein höchst passender Zufall, wenn man bedachte, in welcher Zwickmühle sie sich befand.
Sie konnte nicht länger stillsitzen. Annabel stand auf und lief hin und her. Sie legte einen Arm auf das Pianoforte und atmete tief ein, um sich zu beruhigen. »Darf ich Euch fragen, warum Ihr glaubt, diese Sache ginge Euch überhaupt etwas an?«
Lady Wynn zögerte. Doch dann straffte sie die Schultern. »Lord Manderville hat mich gebeten, mit Euch in dieser Angelegenheit zu sprechen.«
Derek.
Verdammt sollte er sein.
Annabel drehte sich mit der hölzernen Bewegung einer Marionette um und starrte ihren Gast an. Natürlich. Lady Wynn war eine Schönheit mit ihrem glänzenden rotbraunen Haar und ihrer wohlgerundeten, zugleich aber schlanken Figur. Die personifizierte Verführung für einen geilen Mann wie den wollüstigen Earl of Manderville. Hitzig erwiderte sie: »Er hat Euch hergeschickt, damit Ihr für ihn um meine Gunst bittet?«
»Habe ich darum gebeten?«
Nun, der Punkt ging wohl an Lady Wynn, denn das hatte sie nicht. Dennoch war Annabel außer sich vor Wut.
Und eifersüchtig. Sehr eifersüchtig, und diese Eifersucht erfasste ihre Seele, ihren Verstand und ziemlich eindeutig auch ihre Magengrube. Tief in ihrem Bauch saß ein kleiner, schwarzer Ball, der schwer wie Blei war. Sie straffte sich. »Ich habe nie irgendwelche Gerüchte gehört, die ihn mit Eurem Namen in Verbindung brachten, Madam. Daher kann ich wohl nur mutmaßen, welcher Art die Freundschaft zwischen Derek Drake und Euch ist. Ihr seid begehrenswert und eine Frau. Das sagt wohl alles.«
Lady Wynn schüttelte den Kopf. Sie wirkte gefasst und blickte Annabel noch immer mit diesem entnervenden Mitgefühl an. »Er hat nicht mehr getan, außer meine Hand zu berühren. Vor allem hat er es nicht einmal versucht.«
Die Situation wurde in diesem Augenblick nur noch verwirrender. »Wie könnt Ihr dann mit ihm befreundet sein?«
Eine verräterische Röte überzog die perfekten Gesichtszüge der Frau am anderen Ende des Raums. »Es ist eine ziemlich komplizierte Geschichte, aber kurz gesagt ist es so, dass ich glaube, er ist wirklich ein sehr anständiger Mann. Und er ist ohne jeden Zweifel mehr als nur ein bisschen in Euch verliebt. Ja, er hat sich gewünscht, dass ich mit Euch rede, denn er hat mir gestanden, dass sein außergewöhnlicher Charme bei Euch seine Wirkung verfehlt.«
»Das ist so, weil Ihr unrecht habt. Er ist ein entsetzlicher Schuft und hat nicht mehr Moral als eine Straßendirne.«
Aber ihr Widerspruch kam nicht mit genug Überzeugung. Annabel konnte ihn noch immer sehen, wie er in ihrem Schlafzimmer stand. Sie konnte seine ergreifende Erklärung hören. Ich liebe dich …
Sie wollte es ja glauben, und diesen Funken Hoffnung in sich aufkeimen zu spüren, dass es vielleicht stimmte, war Himmel und Hölle zugleich. So oder so waren ihre Zweifel, ob sie Alfred heiraten sollte, inzwischen sehr greifbar. Dazu bedurfte es nicht einmal der Beobachtungen ihres ungebetenen Gastes.
»Ich verstehe, dass die Reputation des Earls Euch zögern lässt. Das zeigt mir, wie wenig Ihr an seinem Aussehen, seinem Titel und seinem Vermögen interessiert seid. Er ist nicht perfekt, aber manchmal sind es gerade diese Gauner, in die wir uns verlieben.«
Annabel fragte mit einer Stimme, die alles andere als gelassen klang: »Sprecht Ihr aus Erfahrung, Lady Wynn?«
Das hübsche Gesicht der jungen Frau, die nur wenige Schritte von ihr entfernt stand, wirkte beinahe anklagend. Ihre blauen Augen waren dunkel und groß, ihre schmalen Hände waren an ihren Seiten zu Fäusten geballt.
Es hatte sie eine gehörige Portion Überwindung gekostet, durch die Tür des Stadthauses der Familie Drake zu treten. Und es würde ihr noch schwerer fallen, ihre derzeitige Verliebtheit in Nicholas Manning zu gestehen. Caroline hatte Derek jedoch versprochen, ihm zu helfen, und wenn sie den Ausdruck auf Annabel Reids Gesicht richtig las, hatte er absolut recht mit ihren Gefühlen für ihn. Die Haltung ihres Körpers zeigte eine gewisse Verletzlichkeit, und allein die Erwähnung von Lord Mandervilles Namen ließ die Wut
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