Eine unzüchtige Lady
Raum zu nah. »Ich brauche mehr Wein«, brachte er mühsam hervor. »Bitte entschuldige mich.«
»Ja. Ich kann mir nicht helfen, aber du siehst ziemlich unglücklich aus. Doch ist Wein die Lösung?«
Thomas’ ruhige Frage ließ Derek mitten im Schritt innehalten. Er erstarrte und drehte sich um.
Unglücklich war eine Untertreibung, aber er hatte gedacht, er hätte seine Gefühle zumindest einigermaßen unter Kontrolle.
Thomas fuhr fort: »Ich habe versucht, mich herauszuhalten, aber inzwischen habe ich entschieden, dass es keinem guttut, wenn ich weiter schweige. Hast du je darüber nachgedacht, ihr zu sagen, was du fühlst?«
Derek überlegte einen verzweifelten Augenblick lang, ob er so tun sollte, als verstünde er nicht, was sein Onkel meinte. Aber Thomas kannte ihn zu gut. Er hatte ihm zur Seite gestanden, als
Derek die Verantwortung als Earl übernahm; er war in vielerlei Weise wie ein Vater gewesen, zumal Derek seinen Vater so früh verloren hatte. Er atmete zitternd aus, fuhr sich mit gespreizten Fingern durchs Haar und machte keinen Versuch, seine Gefühle zu verbergen. »Sie verachtet mich.«
»Denkst du das wirklich?« Thomas’ Miene blieb ausdruckslos.
»Sie hat es mehr als deutlich gezeigt.« Derek hörte selbst, wie defensiv er klang, und versuchte, das abzumildern. »Es ist mein Fehler, und ich leide darunter. Aber so ist es nun mal.«
»Würde es dir etwas ausmachen, mir zu erzählen, was vorgefallen ist? Ich habe sie gefragt, warum ihr euch offensichtlich miteinander überworfen habt. Sie hat sich geweigert, es mir zu erklären.«
Machte es ihm etwas aus? Verdammt noch mal, ja! Es brachte die Erinnerung an Annabels Gesicht an jenem unseligen Abend zurück. Derek tat sein Bestes, sich unbeteiligt zu geben, aber in seinem Bauch ballte sich etwas zusammen. »Ich fürchte, sie hat mich bei einer recht schamlosen Indiskretion mit Lady Bellvue erwischt. Ich bin sicher, du erinnerst dich noch, dass sie letztes Jahr auf Manderville Hall unser Hausgast war.«
Zu Thomas’ Gunsten musste Derek zugeben, dass dieser nicht missbilligend dreinblickte. Er schien jedoch auch nicht sonderlich überrascht. »Ich habe mir schon gedacht, dass es etwas in der Art gewesen ist. Ich erinnere mich an die fragliche Dame. Während ihres Aufenthalts war sie dir immer dicht auf den Fersen. Ich vermute, ich bin nicht verwundert, weil du ihrem Charme letztlich erlegen bist.«
Nein, das sollte ihn nicht wundern. Es war vielleicht der größte Fehler seines Lebens. Jetzt brachen die Worte aus Derek heraus: »Verdammt noch eins, Onkel, entschuldige mich nicht. Ich hätte Isabella nicht berühren dürfen, und ich hätte es auch nicht getan, wenn nicht …«
»Ja?«
Wenn er nicht an jenem schicksalhaften Nachmittag in die Bibliothek gegangen wäre. Er konnte sich noch heute lebhaft daran erinnern, wie das Sonnenlicht in Rechtecken durchs Fenster auf den Orientteppich fiel, wie schwer die Luft vom Duft vergilbter Papiere und altem Leder war. Wie es ihn nicht im Geringsten überrascht hatte, eine andere Person vorzufinden, die den Raum als Rückzugsort erobert hatte. Schließlich war Annabel häufig hier und steckte ihre hübsche Nase in ein Buch. Sie war dort und sah in dem Tageskleid aus weißem Musselin mit dem zarten, gelben Blümchenmuster ungewöhnlich hübsch aus. Ihr schimmerndes Haar wurde nur von einem Satinband im Nacken zusammengehalten. Als er die Bibliothek betrat, blickte sie auf und lächelte. Und die Intensität seiner Reaktion überraschte ihn mehr als nur ein bisschen.
Seine Reaktion auf ein einfaches Lächeln.
Ja, er wusste von der mädchenhaften Schwärmerei, mit der sie zu ihm aufblickte. Zunächst hatte es ihn amüsiert, als er es bemerkte. Auch wenn er daran gewöhnt war, dass Frauen sich an seine Fersen hefteten und er dieses Spiel genoss, war er überhaupt nicht damit vertraut, das Objekt einer unschuldigen, jugendlichen Bewunderung zu sein. Die Jahre vergingen, und sie war plötzlich nicht im mindesten mehr das bezaubernde kleine Kind, das stets um seine Füße herumgesprungen war, sondern hatte sich stattdessen in eine sehr schöne junge Frau verwandelt. Mehr als ihre rein körperliche Veränderung vom Mädchen zur Frau machte sich ihre Intelligenz bemerkbar. Sie war beredt und, wie sein Onkel es bereits dargelegt hatte, durchaus in der Lage, ihre eigene Meinung zu vielen Themen kundzutun. Schon in jüngeren Jahren war sie abenteuerlustig gewesen, lebensbejahend und zugleich gezwungen, die
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