Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen
weiß als ihr? Mein Gott, sind denn wirklich überall alle Menschen gleich? Sobald einer aus der Masse ausbricht, wird er umgebracht? Xéré, laß mich hinunter.«
Der Jüngling schüttelte wieder den Kopf, als verstände er sie. Seine schwarzen Augen glänzten im Widerschein des Mondes. Es war ein Leuchten, das Gloria erschreckte und doch beruhigte. Der innere Glanz eines Gefühls, das für Xéré so fremd und wunderbar war, daß er es nicht begriff.
Wann Gloria eingeschlafen war, wußte sie nicht. Sie erwachte, als Xéré ihr einen Haufen fremder Früchte in die Hütte brachte, dazu einen süßlich riechenden, vergorenen Saft und ein Stück kaltes Fleisch. Sie rührte nichts davon an.
Während sie schlief, hatte Xéré auch ihre beiden Rucksäcke heraufgeholt. Aus ihnen kramte sie jetzt das Pantherfleisch, aß ein paar Bissen und trank das schale Wasser aus der Plastikflasche. Dann erinnerte sie sich des gefesselten jungen Häuptlings und stürzte aus der Hütte.
Der Gefesselte stand noch immer. Aber seine Kraft hatte nachgelassen. Der Baum war gerader geworden, der höllische Zug der Biegung mußte so gewaltig sein, daß nicht mehr viel fehlte, bis der Stamm zurückschnellte. Jetzt saß ein Ring von Kriegern um den zum Tode Verurteilten, unter ihnen der alte Häuptling, der Vater des Jungen, und starrte stumm auf den keuchenden und mit seiner letzten Kraft kämpfenden Mann.
»Halt!« schrie Gloria. »Halt! Bindet ihn los! Ich will, daß ihr ihn losbindet!«
Sie stieß Xéré zur Seite, der ihr wieder den Weg vertrat, kletterte die Lianenleiter hinunter und lief über den freien Platz. Dabei warf sie die Arme hoch und schrie immer wieder: »Halt! Halt! Halt! Bindet ihn los!«
Ihr blondes Haar wehte im Morgenwind, die frühe Sonne ließ es wie Gold aufleuchten. Für die Ximbús war es, als liefe ein Stück der Sonne selbst durchs Dorf.
Der junge Häuptling hob den Kopf. Sein Gesicht war verzerrt, Schweiß lief über seine Augen, sein Körper zuckte stark, seine Beine stemmten sich noch in den Boden, die Muskeln an den Oberschenkeln und Schultern quollen wie dicke Stränge durch die Haut.
Er starrte Gloria wortlos an – und plötzlich lächelte er, ja, seine zitternden Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, zu einem wissenden, stummen Signal: Ich weiß, wer und was du bist! Aber sie wollen es nicht wissen; laß ihnen den alten Glauben, sie leben glücklicher damit. Aber wir zwei, wir kennen die Wahrheit, und nichts ist gefährlicher, als die Wahrheit zu wissen!
Leb wohl, schönes Mädchen. Dein Anblick ist wirklich wie die Sonne; ich nehme ihn mit in die ewige Dunkelheit.
Er stieß einen hellen, vogelähnlichen Schrei aus, einen Triumphlaut, mit dem er früher die Köpfe seiner Feinde abschlug und ihnen die Herzen aus der Brust riß. Die Krieger um ihn herum hoben beide Arme, der alte Häuptling nickte seinem Sohn stolz zu. Dann gab der Junge den Widerstand auf, seine Muskeln verschwanden unter der Haut, der gebogene Baumstamm schnellte zurück und schleuderte den Körper hoch in die heiße Morgenluft. Die Lianenschlinge um den Hals zog sich zu.
»Nein!« schrie Gloria auf. »Nein!« Sie sah, wie der schlanke Körper hochwirbelte, warf sich herum und drückte beide Hände vor ihr Gesicht. Ein dumpfes Gemurmel der Krieger bewies ihr, daß es geschehen war. Der junge Häuptling hing in der Schlinge, und der Zug des zurückschnellenden Baumes war so groß gewesen, daß die Lianenschnur ihm fast den Kopf vom Rumpf geschnitten hätte.
Sie drehte sich nicht mehr um, ging zu ihrem Baum zurück, lehnte sich gegen den dicken Stamm und weinte. Xéré trat hinter sie, streichelte schüchtern und kaum merklich ihr blondes Haar und sprach mit leiser Stimme auf sie ein – fremde, melodische, fast singende Laute, die beruhigend wirkten, einschläfernd, betäubend, fast hypnotisch. Sie spürte, wie sie ruhiger wurde, wie das Grauen aus ihr wegglitt und die Angst, die sie gleichzeitig empfunden hatte, völlig verschwand.
»Wir werden ein Floß bauen«, sagte sie. »Mit euren Einbäumen kippe ich um. Aber ein festes, breites Floß ist etwas Gutes. Noch heute fangen wir damit an. Holt nur den Toten vorher herunter, bitte, holt ihn herunter …«
Xéré verstand sie natürlich nicht, aber er begriff, was sie wollte, so wie ein Hund begreift, wenn sein Herr zu ihm redet. Er nickte, rannte zum Platz und sprach aufgeregt mit dem alten Häuptling.
Die Krieger bogen den Stamm zurück und schnitten den Toten mit ihren
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