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Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen

Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen

Titel: Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Stütze für das Klettern abgab. Nur mit den Lianenleitern war es möglich, auf die Plattform zu kommen. Für die Begriffswelt der Ximbús war das eine uneinnehmbare Festung, wenn man nicht an das Feuer dachte. Feuer! Das Feuer bedeutete Freiheit! Gloria kroch in ihre Hütte zurück. Dort standen die beiden Rucksäcke, lag alles, was Hellmut Peters und sie vom Flugzeug mitgenommen hatten. Auch zwei Pakete Streichhölzer, dieses für Steinzeitmenschen unbegreifbare Wunder, daß man aus einem winzigen Stückchen Holz mit einem einzigen Ruck eine Flamme zaubern kann. Gloria steckte die Streichhölzer ein und kroch wieder nach draußen.
    Noch einmal schrie sie zu den Menschen hinab, rief Xéré und winkte. Keiner blickte hinauf, nur wenn sie an dem Baum, auf dem die Göttin hauste, vorbeilaufen mußten, schlugen sie einen Bogen um den Stamm, so, als scheuten sie sich, zu nahe an sie heranzukommen.
    Ich muß es wagen, dachte Gloria. Die Befreiung des Gefangenen hat mir geschadet, jetzt muß ich ihnen zeigen, daß ich immer noch die Stärkere bin.
    Sie rannte in ihre Baumhütte, schleppte die Rucksäcke heraus und warf sie über die Plattform hinunter.
    Sie prallten neben Xéré auf die Erde. Wenn er jetzt nicht reagierte, war das nur gewollt. Dann bereitete sich da unten etwas vor, was sie nicht begriff, aber zu ihrem Schaden war.
    Xéré rührte sich nicht. Er lehnte an dem Baum, stützte sich auf einen Speer und starrte hinüber zum Fluß.
    Gloria trat an den Rand der Plattform. Hier konnte sie jeder sehen, und sie wußte, daß man sie aus den Augenwinkeln beobachtete, auch wenn alle Köpfe gesenkt waren und alle mit ihrer Arbeit beschäftigt waren.
    »Seht her!« schrie sie und streckte beide Arme hoch. Sie spreizte weit die Finger und griff mit ihnen nach der Sonne, die genau über ihr am wolkenlosen, blaßblauen Himmel glühte. »Ich hole einen Strahl aus der Sonne und verbrenne damit mein Gefängnis! Ihr wollt eine Göttin einsperren! Seht her, ihr Idioten!«
    Da niemand sie verstand, waren die Worte eigentlich gleichgültig, aber der Klang ihrer zornigen Stimme wurde von allen Ximbús begriffen. Sie hatten ein natürliches Empfinden für Töne, und was die Göttin jetzt rief, war böse, sehr böse sogar.
    Plötzlich ruhte die Arbeit. An den Booten richteten sich die Männer auf, die Waffenfabrik am Waldrand unterbrach das Eintauchen der Pfeile in den Giftsud, die Frauen und Kinder starrten hinauf zu Gloria und zogen die Köpfe tief zwischen die Schultern, und Xéré hob den Kopf. In seinen Augen lag tiefe Traurigkeit. Nur der Medizinmann lief herum, als jage er ein Huhn, und stieß schrille, anfeuernde Schreie aus.
    »Ihr könnt mich nicht einschließen!« schrie Gloria zu den kleinen, nackten Menschen hinab. »Seht her, was ich mache!«
    Sie ließ die Arme fallen, riß schnell drei Streichhölzer auf einmal an, weil es eine deutlichere Flamme gab, hob die Finger, und alle sahen, daß plötzlich aus den Fingerkuppen der Göttin Feuer loderte.
    Ein Aufschrei aus Hunderten von Kehlen ließ die Luft erzittern. Zu spät! Die Flammen fielen auf das Hüttendach, die trockenen Blätter fingen sofort Feuer, sie brannten wie Zunder, und nach wenigen Sekunden stand die ganze Hütte in einer prasselnden Glut, die sich nach oben an dem Baum weiterfraß und die anderen Äste erfaßte.
    Verzweifelt war Gloria an die äußerste Ecke der Plattform geflüchtet, aber die wahnsinnige Hitze holte sie ein und fiel über sie her. Der Trick mit dem Feuer, das aus den Fingerkuppen lodert, war gut und wirkungsvoll –, aber was nutzte es, wenn sie jetzt selbst verbrannte, wenn das Feuer sie einholte, bevor man sie rettete.
    Und kam überhaupt jemand, um sie aus den Flammen zu holen? Gehörten die Flammen nicht zu ihr, war sie nicht die Göttin der Sonne?
    Die Hütte brannte lichterloh, das Feuer breitete sich rasend aus, fand überall Nahrung und fraß sich wie eine feurige Säge in die Rundstämme der Plattform. Es gab keinen Ausweg mehr: vor ihr die Hölle der Flammen, hinter ihr die Tiefe. Es gab nur zwei Möglichkeiten, jetzt zu sterben: verbrennen oder auf dem Boden zerschmettern.
    »Hilfe!« schrie Gloria. »Hilfe!« Es war sinnlos, sie wußte es, aber sie mußte schreien, weil es wie eine Befreiung war. Und die Flammen kamen immer näher, die Feuerlohe erfaßte den ganzen Baum, die Hitze wurde unerträglich und versengte bereits ihr Haar und brannte sich in ihre Haut ein.
    Es gab kein Entkommen mehr, unter ihren Füßen

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