Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen
an ihr vorbeigingen und ihr ihre Waffen zeigten, damit sie sie segnen konnte.
Pfeile, Bogen, Bolzen, Blasrohre, Speere, Steinbeile, Schleudern, Messer, Mann hinter Mann, nackt und wieder mit weißen Streifen bemalt, schoben sich die Ximbús an ihrer weißen Göttin vorbei, hielten ihre Waffen über sie, verharrten eine Sekunde regungslos und gingen dann weiter.
Bei jedem Mann nickte Xéré stumm. Die Göttin dankt. Die Göttin ist gnädig. Der Sieg ist unser.
Als letzter, als alle vorbeigegangen waren und sich am Flußufer um ihren Häuptling scharten, kam der Medizinmann zu Xéré. Er starrte auf Gloria hinunter, und hinter seiner wilden Bemalung und dem Federschmuck sah man nicht sein Gesicht.
»Nach dem Sieg über die Yincas wird sie sterben«, sagte er dumpf.
Xéré schwieg und blickte an dem Medizinmann vorbei in den Wald. »Warum?« sagte er nach einer ganzen Zeit.
»Wir brauchen sie nicht mehr.«
»Eine Göttin ist unentbehrlich.«
»Du weißt wie ich, daß sie nur ein Mensch ist. Ein Mensch mit weißer Farbe. Eine Göttin wäre nicht verbrannt.« Der Medizinmann stützte sich auf einen langen Speer. »Warum hast du noch nichts gesagt, Xéré?«
»Für mich ist sie eine Göttin!«
»Nur zwei kennen das Geheimnis. Du und ich! Nach dem Krieg werde ich dich zum Häuptling machen.«
»Du willst den Krieg?«
»Die Ximbús müssen die Welt beherrschen! Sie müssen das stärkste Volk sein! Diese weiße Frau gibt ihnen die Kraft, es zu werden. Sind sie es, brauchen wir sie nicht mehr.«
»Sie wird nicht getötet werden«, sagte Xéré langsam. »Warum träumst du so von Macht, Xumina?«
»Gibt es Schöneres, als Menschen zu beherrschen? Die Welt zu regieren?«
Es war gespenstisch, Xumina machte eine weite Handbewegung. Die Welt! Für ihn bestand sie aus dem großen, undurchdringlichen, unendlichen Wald. Für ihn gab es nichts anderes als Wald. Es war auch undenkbar, daß es etwas anderes gab als Wald. Auch die weißen Menschen mußten irgendwo an einem Fluß in diesem Wald leben, ein ganz besonderer Stamm, mehr aber auch nicht. Das alles wollte er allein beherrschen.
Er war ein Mensch, und war er in der Entwicklung auch zweitausend Jahre zurück, den Rausch der Macht kannte auch er.
»Du willst sie nicht töten lassen?« fragte Xumina gepreßt. Seine Hand fiel herab.
»Nein!«
»Dann werden wir dich zuerst töten, Xéré!«
Plötzlich lag in Xérés Hand ein kleines Blasrohr. Man sah genau, daß ein Pfeil in ihm steckte, und jeder wußte, wie blitzschnell ein Ximbú solch ein Rohr an den Mund reißen kann und den Pfeil herausbläst. Traf der Pfeil, gab es keine Rettung mehr. Das Gift war nicht mehr aufzuhalten, sobald es in die Blutbahn drang.
Der Medizinmann wandte sich ab. Weitere Worte waren sinnlos. Aber Xéré wußte, daß er von jetzt an den Tod mit sich herumführte und Xumina nie aus den Augen lassen durfte.
Ein Mensch, der zuviel weiß, lebt kürzer – selbst im unerforschten brasilianischen Urwald.
Xéré beugte sich über Gloria und streichelte ihr kindliches Gesicht.
In diesem Moment beschloß er, zum Mörder zu werden. Er mußte Xumina töten, um Gloria zu retten.
Die einzelnen Kampfgruppen der Yincas hatten sich im weiten Bogen um das Ximbúgebiet herum durch den Wald geschlagen und den Fluß wieder erreicht.
Es war ein mühsamer, aber erstaunlich schneller Marsch gewesen. Xinxaré zeigte sich hierbei als der geborene Feldherr. Er marschierte nicht mit der ganzen Kriegsmacht durch den Wald, was trotz der Umwege den Ximbúspähern aufgefallen wäre, sondern ließ drei kleine Gruppen bilden, die einzeln und unabhängig voneinander zum Fluß vordringen sollten.
Antonio Serra hatte ihm das eingeredet, und Xinxaré fand die Idee gut.
»Kommandotrupps nennt man das«, hatte Serra erklärt. »Sie sind schneller, beweglicher, können schnell zuschlagen und wieder verschwinden. Der Schaden, den sie anrichten, kann den Gegner zermürben. Das ist die Taktik der Guerillas. Das habe ich von der Pike auf gelernt.«
Xinxaré verstand das alles nicht, aber er begriff so viel, daß man die Ximbús überfallen würde wie Hornissenschwärme.
Zuerst machten sie noch einen Umweg zu Serras Hütte, luden dort einige Röhren Dynamit und drei Handgranaten ein und überreichten Xinxaré einen Sack mit Salz. Am Abend gab es ein kleines Fest, bei dem die Yincas das gesalzene Fleisch wie Raubtiere verschlangen und Serras guten Gin wie Wasser tranken. Nach einer Stunde lagen sie wie narkotisiert um das
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