Eine verlaessliche Frau
Baumwollhandschuhe zum Tee wie die anderen Damen. Sie beobachtete die Frauen im Speisesalon des Hotels und versuchte, sich so zu kleiden, sich so zu benehmen und so zu lächeln wie sie. Sie waren kühl und glanzvoll.
Sie trug ihre schlichten Kleider und ihren schicken Pelzmantel, während sie am Abend durch die frühe Dunkelheit und den leichten Schneefall ging, am Broadway mit seinem Kranz von Gaslampen entlang, vorbei an dem Bogen, auf dem Porträts von jedem Präsidenten zu sehen waren. Es gab dort StraÃenbahnen und Pferde, Waggons mit Bierfässern und so viele Automobile, dass sich Truitts närrischer Stolz auf seinen Wagen in Peinlichkeit verwandelt hätte. In Saint Louis wäre Truitt nur einer von Hunderten von Männern wie er gewesen. Reichen Männern.
Sie ging an den Obstmärkten vorbei, die selbst im Winter mit buntem Gemüse versorgt waren, und die Verkäufer hatten ihre Köpfe gegen die Kälte mit Tüchern umwickelt, ihre Hände steckten in fingerlosen Handschuhen, und sie priesen ihre Waren mit italienischem und deutschem Akzent an und wurden von elenden Kindern unterstützt, die mitten im Winter in abgelegten Baumwollsachen herumliefen. Ohne Mitleid lief sie durch ein Meer von Armut, das sie überflutete.
Auf dem Land gab es den Irrsinn. Es gab Brände, Brandstiftung, Morde und Vergewaltigungen, unvorstellbare Grausamkeiten, die gewöhnlich von Menschen an Menschen, die einander kannten, begangen wurden. Es war wenigstens etwas Persönliches. Hier herrschte das herzlose, gesunde, anonyme Schwirren der trostlosen modernen Maschinerie, der Räder und Zahnräder, des kalten Eisens aus Truitts GieÃerei. Hier gab es entsetzliche Armut und Derbheit. Sie gab den Kindern Münzen. Den Müttern konnte sie nicht in die Augen sehen.
Sie spazierte zwischen den Gebäuden und Denkmälern, die noch von der Weltausstellung stammten, hindurch, lief durch das Museum und die japanische Ausstellungshalle, die mit Hunderten von kleinen und zerbrechlichen Gegenständen von unglaublicher Kunstfertigkeit und mit Kimonos gefüllt war, die, schwer und üppig, wie kunstvoll bestickte Morgenmäntel aussahen. Sie ging zum Odeon, zur Musikhalle, und saÃ, allein und unbeachtet, in einer Loge. Sie kannte die Komponisten nicht, ihr gefiel einfach die süÃe Majestät des Klangs. Sie schaute gern von oben auf die Menge hinunter. Sie trug keinen Schmuck, hatte keinen Fächer dabei. Sie tat nichts, was Aufmerksamkeit hätte erregen können.
Sie ging abends durch die StraÃen, hörte die Musik aus den Bierlokalen, während die Türen auf- und wieder zuschwangen, hörte die lustigen Walzer und Polkas, die auf klapprigen alten Klavieren gespielt wurden, und das Lachen der Männer und Frauen, die zu ihren Vergnügungen kamen oder gingen. Nie ging sie selbst hinein. Sie dachte nie daran, sich andere Kleider zu kaufen, auffälligere, vulgärere, und sich unter die lachende Menge zu mischen, eine der lachenden Frauen zu werden. Sie vermisste ihren bescheidenen Schmuck, den sie vielleicht getragen hätte, um den Hals, die Handgelenke und an den Ohren. Sie hätte vielleicht Parfüm aufgelegt und beim Gehen ihren Duft verbreitet. Sie stellte sich den Geschmack von Bier in ihrer Kehle vor, merkte dann aber, dass sie ihn wirklich nicht vermisste. Sie dachte an Zigaretten, aber der Gedanke schien sehr fern zu sein, ohne einen Sog zu entwickeln. Sie stellte sich vor, mit halb geschlossenen Augen dazusitzen und irgendeinem schäbigen Neger dabei zuzuhören, wie er Klavier spielte und dazu etwas Gemeines und Schmutziges sang. Sie lief so unauffällig durch die kalten StraÃen wie jede andere dieser wohlhabenden Frauen, und sie war glücklich in ihrer Anonymität.
Sie aà allein im Speisesalon des Hotels, ertrug anstandslos die demütigende Einsamkeit und las, während sie darauf wartete, dass man sie bediente. Das Essen war köstlich, obwohl nicht so gut wie das von Mrs. Larsen, aber gehaltvoll und schwer, so dass sie anschlieÃend schläfrig und benommen war. Sie aà Austern, Rindfleisch und Gemüse und groÃe, fahle Fische, die frisch aus Chicago oder sogar aus New York kamen. Sie bekam Gerichte mit französischen Namen, die sie weder aussprechen noch verstehen konnte, so dass der Kellner bei ihr stehen bleiben und geduldig erklären musste, wie sie zubereitet wurden.
Am Morgen verbrachte sie viel Zeit
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