Eine verräterische Spur: Thriller (German Edition)
zwei Filme angesehen. Um halb zwölf war ich zu Hause.«
»Haben Sie seither etwas von Gina gehört?«, fragte Mendez.
»Vor ein paar Tagen.« Die Fragen schienen ihm zusehends unangenehmer zu werden. »Das haben Sie mich doch gestern schon gefragt. Warum?«
»Wo waren Sie letzten Mittwoch ab, sagen wir mal, fünf Uhr?«, fragte Hicks.
Bordain schnaubte genervt, schnippte Asche in den Aschenbecher, nahm einen weiteren Zug und stieß den Rauch durch die Nase aus. »Ich habe bis ungefähr sechs gearbeitet, bei Capriano etwas getrunken, zu Abend gegessen …« An diesem Punkt schien ihn sein Gedächtnis im Stich zu lassen. »Keine Ahnung. Ich bin nach Hause gefahren. Ich führe nicht über jede Stunde meines Lebens Buch, Sie vielleicht?«
»Ich bin die meiste Zeit hier«, sagte Mendez. »Gina Kemmer haben Sie an dem Tag nicht gesehen?«
»Nein. Sie rief mich am Nachmittag wegen Marissas Beerdigung an. Mehr nicht. Warum?«
»Gina Kemmer ist seit dem frühen Mittwochabend verschwunden«, sagte Hicks.
»Verschwunden?«, wiederholte Bordain dümmlich, als wüsste er nicht, was das Wort bedeutete.
»Ja«, sagte Mendez. »Sie wird Ihr Alibi für die Nacht, in der Marissa starb, nicht bestätigen können, weil seit zwei Tagen niemand etwas von ihr gesehen oder gehört hat.«
Bordain blickte von einem der Detectives zum anderen. »Ich denke, ich gehe jetzt besser«, sagte er und stand abrupt auf. »Es gefällt mir nicht, welche Wendung das hier nimmt.«
Mendez ließ sich auf seinem Stuhl zurücksinken und breitete die Arme aus. »Wenn Sie nichts Unrechtes getan haben, dann gibt es keinen Grund, warum Ihnen das Gespräch unangenehm sein sollte.«
»Hören Sie«, sagte Bordain und sammelte Zigaretten und Feuerzeug ein. »Ich habe nichts mit dem Mord an Marissa zu tun. Ich habe meiner Mutter keine abgeschnittenen Brüste mit der Post geschickt. Ich habe nicht versucht, sie von der Straße zu drängen. Wo Gina auch ist, ich habe sie nicht dorthin gebracht.«
»Wären Sie bereit, sich einem Lügendetektortest zu unterziehen?«, fragte Hicks.
»Nein, wäre ich nicht«, sagte er. »Und Sie haben keinen Grund, mich hier festzuhalten, also …«
»Es steht Ihnen jederzeit frei zu gehen«, sagte Mendez. »Wir müssen vorher nur noch schnell ein Foto von Ihnen machen.«
»Weswegen?«
»Wegen Haley. Wir zeigen ihr Fotos von allen männlichen Bekannten ihrer Mutter, um zu sehen, ob sie darauf reagiert …«
»Kommt nicht in Frage«, sagte Bordain wütend. »Sie wollen eine Gegenüberstellung mit einer Vierjährigen machen, die traumatisiert ist und wahrscheinlich einen Hirnschaden davongetragen hat? Vergessen Sie’s.«
Sie sahen zu, wie er zur Tür ging und dort stehen blieb. Mendez stand auf, um ihn hinauszulassen.
»Manchen Leuten, die hierherkommen, steht es nicht ganz so frei zu gehen wie anderen«, erklärte er.
Bordain gab keine Antwort, er verließ das Zimmer und ging mit großen Schritten zum Ausgang. Vince kam aus dem Pausenraum, um ihm nachzusehen.
»Das hat ihm gar nicht gefallen«, sagte Mendez.
Vince zuckte mit den Schultern. »Na und?«
62
Auf halbem Weg nach oben wurde die Welt still. Gina hatte keine Ahnung, wie lange sie gebraucht hatte. Es kam ihr vor, als wären es Tage gewesen. Jeder Schritt fiel ihr noch schwerer als der vorherige, raubte ihrem Körper noch mehr Kraft, ließ sie das Gefühl für die Realität verlieren. Nach jeder Sprosse musste sie sich länger ausruhen, und der Wunsch, zu schlafen und sich einfach in die Schwärze fallen zu lassen, wurde immer stärker. Sie wusste nicht, ob sie weinte, es war, als ob sie in einzelne Teile zerfiele, als würden Körper, Seele und Geist auseinanderdriften und die Verbindung zueinander verlieren. Marissa hatte aufgehört, mir ihr zu reden. Die Stille dröhnte in ihren Ohren. Sie war nahe daran aufzugeben. Die paar Bissen, die sie hinuntergewürgt hatte, waren ihr vor Schmerz und Anstrengung wieder hochgekommen. Der Adrenalinschub, der sie dazu veranlasst hatte, mit dem Aufstieg zu beginnen, war längst abgeebt. Hungrig und dehydriert, wie sie war, hatte sie keine Reserven mehr, auf die sie hätte zurückgreifen können. Ohne dass sie es wusste, hatte die konzentrierte Säure in ihrem leeren Magen begonnen, sich in die Magenwand zu fressen. Sie nahm den Schmerz wahr, weil er neu und stechend war. Der Schmerz in ihrem gebrochenen Knöchel war auf seltsame Weise zu einem betäubenden weißen Rauschen in ihrem Kopf geworden. Die Stelle, an der die
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