Eine verräterische Spur: Thriller (German Edition)
Anne.
»Danke, Daddy Milo!«
»Tante Milo«, verbesserte Anne sie.
»Ach, das macht nichts«, sagte Milo Bordain. »Haley hat mir einmal erklärt, dass ich ein Mann sein sollte, weil ich einen Männernamen trage.«
Haley verlor das Interesse an den Erwachsenen, sprang vom Sofa und ging zu ihrer Freundin, um ihr ihren neuen Schatz zu zeigen. »Schau mal, Wendy! Ich habe ein Kätzchen bekommen, aber es ist kein echtes. Es sieht nur so aus.«
»Wow, toll, Haley«, sagte Wendy. »Komm, wir stellen es deinen Puppen vor. Wie heißt es denn?«
»Palmkätzchen.«
»Palmkätzchen?«
»Sie ist völlig besessen davon, einen Daddy zu haben«, sagte Anne.
»Daran ist nur Marissa schuld«, sagte Milo Bordain verbittert. »Wie oft habe ich ihr gesagt, sie soll endlich heiraten, damit Haley einen Vater hat, aber sie wollte nicht auf mich hören.«
»Hat sie ihre Freunde mit nach Hause genommen?«, fragte Anne.
»Ja, aber nicht, was Sie denken. Marissa war eine sehr gewissenhafte Mutter. Sie hatte allerdings viele Männerbekanntschaften. Ich habe schon immer gedacht, dass das verwirrend für die arme Haley sein muss. Sie hat jeden Mann Daddy genannt.«
»Alle ihre Freundinnen leben in Familien mit Vater und Mutter«, erklärte Anne. »Da ist es ganz verständlich, dass sie auch einen Vater will.«
»Wie wird sie denn mit alldem fertig?«, fragte Milo Bordain. »Ich mache mir wirklich Sorgen ihretwegen.«
»Es ist ein ständiges Auf und Ab. Kinder in Haleys Alter halten den Tod für etwas Vorübergehendes und sind psychisch noch nicht in der Lage, den Trauerprozess wie Erwachsene zu durchleben – und für die ist es schon schwer. Da kann man sich leicht vorstellen, wie verwirrend das alles für ein Kind sein muss. Die eine Minute ist Haley verstört, weil ihre Mutter fort ist, und die nächste kichert sie über einen Zeichentrickfilm oder erzählt, dass sie eine Elfenkönigin sein möchte. Vermutlich wird sie im Lauf der nächsten Jahre, wenn sie mehr begreift, die verschiedenen Trauerstadien durchmachen. Das ist ein langer Prozess.«
»Hat sie Andeutungen darüber gemacht, was passiert ist oder wer sie angegriffen hat?«, fragte Maureen Upchurch, die sich in Vinces Häuptlingssitz sinken ließ.
»Sie hat Alpträume von einer schwarz gekleideten Gestalt«, sagte Anne. »Dem bösen Daddy. Einen Namen hat sie nicht genannt. Vielleicht wird sie es nie tun, weil ihr Unterbewusstes das verhindert.«
»Das arme kleine Ding«, sagte Milo Bordain voller Mitleid. »Ihr ganzes Leben ist auf den Kopf gestellt!«
Haley kam mit ihrem neuen Stofftier unter dem Arm zu ihnen gelaufen. »Wo sind meine echten Kätzchen?«
»Ich habe Hernando gebeten, deine Katze und ihre Jungen zu uns zu holen, damit wir uns um sie kümmern können«, sagte Milo Bordain. »Sie wohnen zusammen mit den Pferden und den Hühnern in der Scheune. Du musst sie bald mal besuchen kommen.«
Haleys Miene hellte sich auf, und sie wandte sich Anne zu. »Au ja, Mommy Anne. Wann fahren wir zu ihnen?«
Der Vorschlag erwischte Anne kalt, so dass ihr auf die Schnelle kein Einwand einfiel. Milo Bordain hatte sie bewusst oder unbewusst hereingelegt.
»Mommy Anne?«, fragte Milo Bordain mit hochgezogenen Augenbrauen.
»So nennt Haley mich«, erklärte Anne. »Das gibt ihr ein Gefühl der Geborgenheit.«
»Das dürfen Sie ihr keineswegs gestatten«, erwiderte Maureen Upchurch.
»Sie ist vier«, erwiderte Anne. »Lassen wir ihr doch ihren Willen.«
Ungeduldig hüpfte Haley von einem Fuß auf den anderen. »Bitte, bitte, bitte.«
»Ja, kommen Sie mit Haley doch zu uns, damit sie ihre Kätzchen sehen kann!«, sagte Milo Bordain, die ihre Verärgerung schnell überspielte. »Haley würde das bestimmt gefallen. Sie liebt Tiere! Stimmt es nicht, Kleines? Wir haben Kühe und Pferde und Schafe und Ziegen und Hühner.« Sie wandte sich an Anne. »Sie sollten wirklich mit ihr zu mir auf die Ranch kommen. Hernando und Maria können für uns ein Picknick am Wasserreservoir vorbereiten.«
Bevor Anne auch nur den Mund zu einer ausweichenden Antwort öffnen konnte, stand Haley schon vor ihr und sah sie mit ihren großen Augen an.
»Mommy Anne! Fahren wir hin? Bitte, bitte!«
»Wir werden sehen«, sagte Anne.
»Das ist gemein«, rief Haley und sah zu ihrer Tante Milo. »Wir werden sehen heißt nein.«
»Wir werden sehen heißt, dass wir sehen werden«, sagte Anne.
»Ich wüsste keinen Grund, warum Sie mich nicht mit ihr besuchen sollten.« Milo Bordain wurde wieder
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