Eine verräterische Spur: Thriller (German Edition)
zusehen, wie jemand ihr Kind umzubringen versuchte, ganz gleich, wie es um sie selbst stand. Haley war mit ihrem Mörder allein gewesen.
»Es tut mir so leid, Kleines«, flüsterte sie und strich Haley dabei immer wieder über den Kopf. »Es tut mir so leid.«
Langsam richtete Haley sich auf, kniete sich hin und streckte die Arme aus. Ihre Lippen bewegten sich, aber es kam kein Laut darüber. Sie versuchte es noch einmal, brachte jedoch nur ein Krächzen zustande.
»Ich kann dich nicht verstehen«, sagte Anne und beugte sich tiefer zu ihr hinunter.
Haley schlang die Arme um Annes Hals, und während die Tränen erneut zu fließen begannen, schaffte sie es, ein Wort zu flüstern.
»Mommy.«
Annes Herz floss vor Mitleid über. Sie drückte sie an sich und strich ihr über den Rücken, küsste sie aufs Haar, versuchte ihr Trost zu spenden.
Schließlich trat die in Gucci und eine Chanel-Wolke gehüllte Frau neben sie, die sich offenbar aus ihrer Erstarrung gelöst hatte. »Gott sei Dank, dass Sie gekommen sind«, sagte sie leise. »Ich wusste einfach nicht, was ich machen soll. So etwas habe ich noch nie erlebt.«
»Sie hat furchtbare Angst«, sagte Anne, irritiert darüber, dass anscheinend weder diese Frau noch der Arzt auf etwas so Einfaches gekommen waren.
»Sie wollte uns nicht einmal ansehen«, sagte Bordain. »So als befände sie sich in einer anderen Welt.«
In einer Welt, in der sie miterleben musste, wie ihre Mutter abgeschlachtet wurde und selbst dem Mörder hilflos ausgeliefert war, dachte Anne.
»Kannten Sie Marissa?«
Anne blickte auf. »Nein, ich habe sie nie kennengelernt.«
»Aber Haley lässt sich von Ihnen in die Arme nehmen«, sagte die Frau verwirrt.
Milo Bordain, dachte Anne, die Doyenne der besseren Kreise von Oak Knoll. Anne sah häufig Bilder von ihr in der Presse – Fotos von allen möglichen Wohltätigkeitsveranstaltungen und dem Musikfestival im Sommer. Sie war eine große, gutaussehende Frau in den Fünfzigern. Ihre Gesichtszüge wirkten ein wenig zu maskulin, aber ihr Make-up war perfekt. Marissa Fordhams Gönnerin, hatte Vince gesagt.
Eine Frau, die vermutlich Zeit mit Haley verbracht hatte – zumindest in ihrer Umgebung. Ohne sich wirklich mit ihr zu beschäftigen, nahm Anne an. Jedes Haar saß genau da, wo es sitzen sollte, straff zurückgekämmt und am Hinterkopf zu einem festen Knoten geschlungen. Über ihrem kamelhaarfarbenen Blazer trug sie einen wunderschön gemusterten Seidenschal, der kunstvoll um die breiten Schultern drapiert war und von einer edelsteinbesetzten Brosche gehalten wurde. Vervollständigt wurde das Ganze durch eine tadellos gebügelte schwarze Hose und schokoladenbraune Handschuhe aus feinstem Ziegenleder.
»Mommy«, jammerte Haley und vergrub das Gesicht an Annes Schulter.
Anne wiegte sie hin und her, flüsterte ihr beruhigende Worte zu und streichelte ihr über den Kopf.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Bordain gekränkt. »Ich kenne Haley, seit sie ein Baby war. Sie ist wie eine Enkelin für mich. Es war, als würde sie mich nicht einmal erkennen.«
Haleys Weinen steigerte sich allmählich wieder zum Crescendo.
Anne warf der Frau einen flüchtigen Blick zu. »Entschuldigen Sie«, sagte sie, »aber ich habe gerade keine Zeit für Sie.«
Beleidigt richtete sich Milo Bordain zu voller Größe auf –bestimmt ein Meter achtzig, wenn nicht mehr – und sah hochmütig auf Anne hinunter.
»Wissen Sie, wer ich bin?«
»Ja«, erwiderte Anne. »Aber das interessiert mich nicht. Hier geht es nicht um Sie.«
Ohne ein weiteres Wort rauschte Bordain aus dem Zimmer. Anne sah ihr durch die Glasscheibe nach, wie sie geradewegs zu Cal Dixon und Vince marschierte, um sich zu beschweren.
Später würde sie vielleicht Gewissensbisse haben, weil sie so unhöflich gewesen war, dachte Anne. Aber im Augenblick zählte für sie nur das Kind in ihren Armen.
22
Es war bereits weit nach Mitternacht, als Mendez auf dem Parkplatz vor dem Büro des Sheriffs in sein Auto stieg. Er hatte sich mit Hicks in der Nähe der Intensivstation herumgedrückt und darauf gehofft, dass Haley Fordham ihnen viel Arbeit ersparen würde, indem sie ihnen einfach sagte, wer sie halb zu Tode gewürgt und ihre Mutter ermordet hatte. So viel Glück war ihnen jedoch nicht beschieden gewesen. Und mit seinem schlauen Einfall, Anne ins Spiel zu bringen, hatte er sich ins eigene Fleisch geschnitten.
Vince war sauer auf ihn. Und sobald Anne eine Verbindung zu Marissa Fordhams Tochter
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