Eine Versammlung von Krähen (German Edition)
Eigenverlag herausgab, kaum genug Geld einbrachten, um die Kosten zu decken. In Wirklichkeit lebte Myrtle von der Lebensversicherung, die sie bekommen hatte, als ihr Mann vor drei Jahren einem unerwarteten Herzinfarkt erlegen war, den er bei der Truthahnjagd erlitten hatte. Esther vermutete, dass die Bücher Myrtles Art waren, seinen Tod zu verarbeiten.
»Und überhaupt«, fuhr Myrtle ungeduldig fort, »hat Powwow rein gar nichts mit New Age zu tun. Es ist eher mit dem verwandt, was wir hier als Hoodoo bezeichnen, nur beruht es zum Teil auch auf germanischem Okkultismus, Zigeunerüberlieferungen, Ägyptologie und dem Glauben der amerikanischen Ureinwohner. Typisch für Amerika – ein riesiger mystischer Schmelztiegel.«
»Also, für mich klingt das nicht besonders amerikanisch. Deutsche, Zigeuner, Ägypter und Indianer? Amerikanisch sind daran nur die Indianer, und bei Gott, mit denen ist es nicht so gut gelaufen. Für mich klingt das sehr obskur.«
»Oh, es würde dir gefallen. Es ist eine Mischung aus Folklore und der Bibel sowie einem Quäntchen Weißer und Schwarzer Magie. So etwas wie Supernaturalismus, zu dem jeder seinen Teil beisteuern darf.«
»Hoodoo ist keine Magie.«
»Und ob!«
»Meine Mutter konnte Hoodoo wirken«, erklärte Esther. »Aber sie hätte dich auf der Stelle erschossen, wenn du es als Magie bezeichnet hättest. Ihre Fähigkeiten gingen allein darauf zurück, dass der Herrgott durch sie gewirkt hat.«
»So drückst du es aus. Ich wiederum …«
»Horch.« Esther hob eine Hand und richtete sich auf dem Stuhl auf. Sie legte dabei den Kopf leicht schief. »Hörst du das?«
Myrtle schwieg einen Moment. »Hunde? Klingt, als wären alle Hunde in der Stadt gerade verrückt geworden. Vielleicht läuft ein Reh durch die Straßen.«
»Nicht auszuschließen.«
»Wie auch immer«, meinte Myrtle, »wir sind vom eigentlichen Thema abgekommen. Ich wollte darauf hinaus, dass Marietta – woher dieser Mann angeblich kommt – in Lancaster County liegt, sozusagen der heimlichen Hauptstadt der Amish.«
»Das beweist rein gar nichts. West Virginia strotzt vor Hinterwäldlern. Macht uns das etwa auch zu Hinterwäldlern?«
»Natürlich nicht. Aber das ist etwas anderes. Für mich besteht kein Zweifel daran, dass der Mann oben ein Amish ist, ganz gleich, was er selbst behauptet.«
Esther murmelte zustimmend, doch in Wirklichkeit hörte sie der Freundin kaum zu. Ihre Aufmerksamkeit galt allein dem Geheul draußen und der Dunkelheit im Haus. Esther hatte plötzlich das Gefühl, als hielte die gesamte Pension den Atem an. Ein Schauder kroch ihr über den Rücken.
»Geht es nur mir so«, flüsterte sie, »oder ist es gerade kälter geworden?«
»Ist es«, bestätigte Myrtle. »Es ist mir zwar nicht aufgefallen, bis du es erwähnt hast, aber ich stimme dir zu. Soll ich ein Schultertuch für dich holen?«
»Nein, nicht nötig. Ich hoffe nur, die Lichter gehen bald wieder an.«
»Das hoffe ich auch.«
Eine Weile saßen sie schweigend da, lauschten den außer Rand und Band geratenen Hunden und fragten sich, was los sein mochte. Die Temperatur im Raum sank weiter – nicht so tief, dass sie Atemwölkchen in die Luft ausstoßen konnten, aber tief genug, dass es sich unbehaglich anfühlte. Als Esther in der Hoffnung, er könnte sie aufwärmen, nach ihrem Tee griff, bemerkte sie, dass die Flammen der Kerzen flackerten, als wehe eine Brise über sie hinweg.
»Hast du das gesehen?«
»Die Kerzen?« Mittlerweile flüsterte auch Myrtle.
»Ja. Du musst wohl eine Tür oder ein Fenster offen gelassen haben.«
»Nein«, widersprach Esther entschieden. »Die sind alle geschlossen. Ich hab das erledigt, nachdem die Katzen für die Nacht hereingekommen waren.«
Draußen verstummte das wilde Geheul so abrupt, als hätte jemand einen Schalter umgelegt.
Levi Stoltzfus schlief tief und fest, als der Strom ausfiel. Er lag mit ausgestreckten Beinen auf dem Rücken, die Arme über dem Bauch verschränkt. Leise schnarchend träumte er von einem Mädchen im Kornfeld. Ihr zartes, melodisches Gelächter drang zu ihm heran, während sie durch die raschelnden Getreidereihen tänzelte und ihm dabei immer zwei Schritte voraus war. Er wollte sie fangen, sie festhalten und an sich drücken, hier draußen mitten auf dem Feld, wo niemand sie sehen konnte. Er wollte ihren Duft riechen und ihre Haut an seiner spüren. Er wollte mit den Händen durch das lange blonde Haar wuscheln, das sie unter dem Stricknetz auf ihrem Kopf
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