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Eine Versammlung von Krähen (German Edition)

Eine Versammlung von Krähen (German Edition)

Titel: Eine Versammlung von Krähen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Keene
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des Wohnzimmers verschluckten in diesem Moment die Schatten. Einst vertraute Gegenstände wie die Standuhr, die Topfpflanzen und der Kaffeetisch wichen unidentifizierbaren Schemen. Das Buch, das er gelesen hatte, ein reißerischer Thriller mit dem Titel Verkommen!, war in der Dunkelheit kaum auszumachen. Alles hatte sich verändert, war irgendwie stumpf geworden. Nur das Foto stand ihm glasklar vor Augen. Richards Lächeln, seinem Haar und seinen liebevollen Augen konnte die Düsternis nichts anhaben. Joel vergrub das Gesicht in den Händen und konnte seinen Geliebten trotzdem noch deutlich vor sich sehen.
    In der Stadt hatte Stille Einzug gehalten. Die Schreie und Schüsse waren verstummt. Irgendwie fühlte sich die Stille noch beunruhigender an. Joel hoffte, es würde bald ausgestanden sein.
    »The feeling’s gone and I just can’t get it back«, flüsterte er eine Textzeile aus Gordon Lightfoots Song.
    Als die Fensterscheibe zerplatzte und ein dunkel gekleideter Mann ins Zimmer sprang, zuckte Richard nicht zusammen. Er schrie nicht und versuchte nicht, die Flucht zu ergreifen. Stattdessen schaute er nur auf, wischte sich die Tränen aus den Augen und seufzte.
    »Du fürchtest dich nicht?« Die Gestalt ragte mit ausgestreckten Armen über ihm auf.
    Joel schüttelte den Kopf. »Ich bin zu müde, um mich zu fürchten. Ich hab vorhin schon gesehen, was draußen auf der Straße vor sich geht. Ich habe zwei von euch dabei beobachtet, wie sie eine Familie aus ihrem Auto zerrten. Niemand ist ihnen zu Hilfe gekommen.«
    »Niemand wäre dazu in der Lage gewesen.«
    »Steht das Ende der Welt bevor?«
    »Nein. Nur das Ende eurer Welt.«
    »Wird es wehtun?«
    »Es könnte sich in der Tat ausgesprochen schmerzhaft gestalten. Qualvoll und langsam. Fürchtest du dich jetzt?«
    Wieder schüttelte Joel den Kopf.
    Die Schultern des Mannes sackten herab. »Es ist angenehmer, wenn du dich fürchtest. Das verbessert den Geschmack deiner Seele. Aber sei’s drum.«
    Der Mann in Schwarz streckte die Arme nach ihm aus, und Joel beugte sich ihm entgegen.
    »Danke«, flüsterte er, als die Dunkelheit ihn umfing.
    Kirby Fox kauerte in seinem Baumhaus und las in seiner Bibel, einer roten King-James-Ausgabe mit Kunstledereinband, die ihm die Kirche im vergangenen Jahr nach erfolgreicher Beendigung des Katechismusunterrichts geschenkt hatte. Er flehte den Herrn an, dass ihm nicht dasselbe widerfuhr wie seinen Eltern.
    Er hatte hinten im Garten campiert und im Baumhaus geschlafen – zumindest glaubten seine Eltern das. In Wirklichkeit hatte er kaum ein Auge zugedrückt, sondern in einem Ordner mit ausgedruckten Fotos von einer Pornowebsite geblättert. Er bewahrte seinen Schatz im mittleren Fach eines alten Ranzens auf, den er noch aus der Grundschulzeit hatte. Seine Eltern waren zwar noch nie in seinem Baumhaus gewesen – zumindest nicht soweit er wusste –, trotzdem war Kirby ständig auf der Hut, damit niemand seinem kleinen schmutzigen Geheimnis auf die Schliche kam.
    So auch in diesem Moment. Mit dem Finger über einer willkürlichen Passage der Psalmen stierte er in die Dunkelheit. Er hatte die Augen zusammenkneifen müssen, um überhaupt etwas zu erkennen, denn seine Taschenlampe funktionierte nicht. Das Dach des Baumhauses wies ein Loch auf, durch das er in klaren Nächten sein Teleskop hinausstecken konnte. Jeden Frühling stutzte sein Vater die Zweige vor dem Loch zurecht, damit Kirby freie Sicht auf die Sterne hatte. Darunter stand ein 20-Liter-Eimer, der Regenwasser auffing, und es gab eine Plane, die man über das Loch ziehen konnte.
    Kirby fiel auf, dass er vergessen hatte, die Plane zu schließen. Die Blätter raschelten leise, als die Brise stärker wurde. Wind blies durch das Loch hinein, und die ausgedruckten Aktfotos flatterten über den Boden. Nackte Frauen starrten ihn aus einem Dutzend verschiedener Posen an. Er fühlte sich schmutzig und pervers. Die ausgedruckten Bilder hatte er von Gary Thompson bekommen. Kirby hatte ihm dafür zehn Mäuse und seine Kopie von Modern Warfare 2 gegeben. Garys Eltern besaßen nicht nur einen Farbdrucker, sondern auch eine Internet-Flatrate. Sein Klassenkamerad verdiente sich als Pornolieferant nahezu sämtlicher männlicher Mitschüler ein beträchtliches zweites Taschengeld dazu.
    Kirby hatte sich zweimal einen heruntergeholt und danach schuldbewusst mit Papiertüchern die verräterischen Spuren entfernt. Danach kuschelte er sich in seinen Schlafsack und schmökerte zum x-ten Mal

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